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wohl auch der weiteren Praxis das Inventar aufzuschliessen der gewonnenen
Ergebnisse in Leben und Wissenschaft, so ist dieses Verfahren natürlich
nicht gefahrlos. Bei den scharf formulirten programmatischen Sätzen, wie
sie sich aus dem Text des v. Lıszr’schen Buches herausheben, verlieren sich
oft die Grenzlinien hemmender Gegenargumente, es kommt so manches
Schaugericht zur besetzten Tafel, an dem sich nur das Auge satt sehen
kann. Und dennoch ist v. Lıszr’s Experiment aus innern wissenschaftlichen
Gründen ebenso wie aus den geltend gemachten praktischen und didaktischen
zu begrüssen. Es kommt in Zeiten der Ueberschätzung jeder Kodifikation
viel darauf an, zu zeigen, welcher Bestand an positiven, sei es durch Ge-
wohnheit, sei es durch Gesetz und Vertrag gesicherten Rechtsinstituten auf
Griffweite vorhanden ist. Offenbar ist es für jedes Wissensgebiet von
Wichtigkeit, dass der Zeitpunkt nicht verkannt werde, in dem die theore-
tische Begründung und Sicherung eines bestimmt umgrenzten Problems als
abgeschlossen, ihr lösbarer Theil als gelöst angesehen und in das Aktiv-
vermögen der Disziplin eingestellt werden kann. Ein solches Skrutinium hat
aber auch für die gesammte übrige streng dogmatische Arbeit den hohen
Werth, den die genaue Kenntniss der sichern oder schwankenden Boden-
beschaffenheit für Denjenigen hat, der auf dem gegebenen Untergrund weiter
bauen will. Je nach der Individualität sind dann bei diesem Prozess des
Durchsiebens die Sieblöcher bald weiter bald enger und demnach das zurück-
bleibende Stückwerk grösser oder kleiner. In beiden Fällen sieht die Fach-
arbeit, was bereits gethan ist und was zu thun noch übrig blieb. Dass v. Liszr's
Auswahl an vielen Punkten anfechtbar ist, darüber ist er weder selbst im
Zweifel, noch lässt er seinen Leser darüber im Unklaren. Er deutet die
rationes dubitandi und entgegenstehende Lehrmeinungen loyal, wenn auch
in äusserster Kürze im litterarischen Apparat an. Immerhin ist es anzu-
erkennen, wie Verf. trotz der weitgetriebenen Oekonomie auch auf Fragen
eingeht, die sich noch in der Gestaltung befinden und auf Institutionen, die
erst die jüngste Verkehrspraxis gezeitigt hat. In der Vorbemerkung zu seinem
Buche sagt v. Liszt, er wollte mit diesem den Fachgenossen gegenüber
gleichsam „den Befähigungsnachweis erbringen“ für die wissenschaftliche
Arbeit im Gebiete des Völkerrechts. Ich glaube, wir können ihm die kleine
Koketterie mit der Versicherung quittiren, dass wir dem erprobten Meister
einer andern verwandten Disziplin diese Befähigung von vorneherein zuerkannt
hätten, auch wenn ihm der vorliegende Nachweis minder gut gelungen wäre.
Stoerk.