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Aber auf diese völkerrechtliche Seite der Angelegenheit soll
hier nicht eingegangen werden; ich will ihre Erörterung vielmehr
den Völkerrechtslehrern überlassen und hier nur soviel andeuten,
dass, wenn man einen „Krieg“ nicht annehmen zu dürfen glaubt
(etwa weil sich die Operation der Mächte nicht sowohl gegen die
chinesische Regierung wie gegen die Boxer richtet), eine „be-
waffnete Intervention“ (Strafexpedition) vorliegen würde. Diese
Auffassung klingt auch neuestens in der Denkschrift zu der
dem Reichstag unterbreiteten Kostenvorlage durch '*. Aber selbst-
verständlich ist diese Auffassung der Denkschrift ebensowenig
massgebend wie die gegenteilige Auffassung des Publikums, das
wohl grösstenteils einen Krieg!® als vorhanden ansehen und sich
über die Möglichkeit von Zweifeln wundern wird. Und auch die
Auffassung der militärischen Kreise bis hinauf zum obersten
Kriegsherrn !* kann für die Deutung des Reichsmilitärgesetzes
nicht entscheidend sein; hier würde es vielmehr einer authen-
tischen Interpretation des Gesetzgebers — Reichstag und Bundes-
rat — selber bedürfen.
Nehmen wir also einmal die für unsere weitere Untersuch-
ung ungünstigste Antwort als zweifellos richtig an, dass nämlich
14 Auch der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes hat in der Sitzung
der Budgetkommission bei Beratung der Chinavorlage am 4. Dez. 1900
erklärt, die Expedition sei als bewaffnetes Einschreiten gegen anarchistische
Zustände aufzufassen.
15 Eine förmliche Kriegserklärung ist (Rıvıer a. a. O. S. 368f.) nicht
notwendig, wohl aber seitens des angreifenden Teils — als den wir die ver-
bündeten Mächte betrachten wollen — der Wille, den Kriegszustand ein-
treten zu lassen, der etwa durch die Mobilmachung dokumentiert wird.
1 Die Kaiserliche Verordnung vom 15. Juli 1900 (Armee-Ver-
ordnungsblatt 1900 No. 22 S. 359) sagt: „l. Das ostasiatische Expeditions-
korps ist vom Tage des Verlassens der einheimischen Gewässer als mobiler
Truppenverband anzusehen; 2. Meine beiliegenden Verordnungen über die
Strafrechtspflege bei dem Heere in Kriegszeiten vom 21. Dez. 1899 und
über die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit gegen Kriegsgefangene
gelten von dem in Meiner Verordnung vom heutigen Tage bezeichneten
Zeitpunkt an.“