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seiner Theorien sind die Verneinung dieser Ansicht. Denn der richtige
Kern des „historischen Materialismus“ besteht in der leitenden Maxime,
unterhalb aller Mannigfaltigkeit der Kulturentwicklung einen gleichartigen
sozialen Lebensprozess zu entdecken, der wesentlich durch die elementaren
menschlichen Bedürfnisse bedingt ist, der gleich der geologischen Ent-
wicklung seinen gesetzmässigen Gang durch „causes now at work“ vollzieht.
Es ist ein ungenügender Einwand (der die bekannte Schrift STAMMLER’s
durchzieht), dass der wirthschaftliche Prozess nur in den Formen des Rechts
und anderer „äuserer Regelung“ möglich sei. Sicherlich ist dem so. Aber
einmal sind die Ursprünge dieser Regelungen eines der Probleme — und
die Lösung ist, dass aus der Erfahrung des Thatsächlichen — des de facto —
das soziale Wollen — des de jure — entspringt und sich langsam davon
unterscheidet. Sodann geht die These eben dahin: wo immer soziale Ent-
wicklung stattfindet, da ist die.Entwicklung der mit und wider einander
strebenden Einzelwillen das primäre Geschehen, die Entwicklung des
für diese als gültig sich setzenden sozialen Wollens, also des Rechtes, das
sekundäre. Eine vollkommene Kongruenz der beiden Sphären ist eine
Idee, die kein Gegenbild in irgend welcher Erfahrung haben kaun; aber
seinem wesentlichen Gehalte nach stellt das Recht ebensowohl Schutzwehren
wie Schranken der Einzelwillen dar, die es zugleich zusammenhalten und
auseinanderhalten will. Die Schutzwehren für die einen sind Schranken für
die anderen; gegen die Schranken tobt immer, was vorwärts drängt. Je
mächtiger daher ein Knäuel von Interessen wird, desto mehr wird es die
Schranken des bis dahin gültigen Rechtes zu durchbrechen streben. Und
wie das Recht, so die herrschenden Anschauungen, zumal moralische, religiöse,
darum aber auch die gesammte Weltanschauung. Der Grundirrthum Lorı4’s
ist aber, dass Recht und Gemeinbewusstsein, so lange es eine Kultur giebt,
immer an einer kleinen Herrenklasse (die er unterschiedslos als Kapitalisten
definirt) getragen, ausgeprägt oder doch gestempelt werde. Er weiss und
kennt nichts von den kommunistischen, oder, wie ich sage, gemeinschaftlichen
Elementen, die immer in Gewohnheitsrechten, wie im Volksglauben enthalten
sind. Für mich besteht der ganze historische Prozess wesentlich darin, dass
diese Elemente einerseits entwickelt, andererseits zersetzt werden. LoRriA’s
Ansicht ist, wie ich früher gesagt habe, ein Rückfall „auf den Standpunkt
der vulgären Aufklärung, die Religion aus Priestertrug, Recht aus Tyrannen-
willkür generell ableitet“ (Archiv für system. Philos. II, 4 S. 514). Auch
wiederhole ich hier, dass die Verkehrtheit des Buches abnimmt, je weiter
es fortschreitet. Die Einteilung ist sehr einfach. In den 3 Kapiteln werden
successive die wirthschaftlichen Grundlagen der Moral, des Rechtes und der
politischen Macht vorgestellt. Für den besten Abschnitt, der freilich auch
den leichtesten Gegenstand hat, halte ich den 2. Paragraphen des 3. Kapitels
über „Die Zweitheilung des Einkommens und der politischen Macht“.
F. Tönnies.