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staaten sein, welche ihre Aufgabe als lebenskräftiger Bethätigungs-
formen der individualistischen deutschen Kultur erschweren würde,
sondern in erster Reihe wird es sich darum handeln, praktische
Bedürfnisse zu befriedigen und Widersprüche in der staatsrecht-
lichen Gestaltung zu beseitigen, die zwischen dem notgedrungenen
Ergebnis der Kampfesjahre 1866—1871 und unseren heutigen,
auf der Erfahrung eines Menschenalters beruhenden Anschauungen
bestehen. Diese verlangen vor allem die Abschaffung des be-
grifflich sich widersprechenden und politisch unerfreulichen Zu-
stands, dass in einem Bundesstaate, wie dem Deutschen Reiche,
Hoheitsrechte nicht bloss von der Reichsgewalt und dem Einzel-
staate innerhalb seines eigenen Gebiets, sondern auch von einem
Einzelstaate im Gebiete des anderen oder im Zuständigkeitskreise
des Reiches ausgeübt werden. Neben weniger aufiallenden Er-
scheinungen dieser Art, wie dem Briefmarkenpartikularismus und
gewissen Folgen des Uebergangs der Thurn und Taxis’schen Post
an Preussen, der nationalpolitisch durchaus schädlichen preussisch-
hessischen Eisenbahngemeinschaft und der Lächerlichkeit einzel-
staatlicher Diplomatie im Auslande, bietet in erster Reihe die
staatsrechtliche Regelung unseres Heeres ein schlimmes Bild
systemwidriger und mit den Fortschritten des Einheitsgedankens
unverträglicher Verteilung der Hoheitsrechte. Und gerade in
diesem Teile des stolzen Verfassungsbaues, wo die hässliche Halb-
fertigkeit oft verletzend wirkt, ist eine Besserung deswegen leicht
zu erreichen, weil es in der Hauptsache nicht der Abänderung,
sondern gerade der Durchführung der bestehenden Gesetzes-
bestimmungen bedarf. Ist diese erst erfolgt, so werden die
wünschenswerten Verfassungsfortbildungen auf keine ernsten
Schwierigkeiten mehr stossen. Die staatsrechtliche Entwickelung
unseres Heerwesens braucht aber heute sicherlich einen Anstoss.
Denn ein juristischer Feinschmecker darf sich wohl „das ästhe-
tische Vergnügen bereiten, zu erkennen, wie der Gegensatz der
technisch-militärischen Erfordernisse und der staatsrechtlich-poli-