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nach konservativer Betonung der durch Heeresreform und Indem-
nität geschaffenen innerpreussischen Verhältnisse, sogar eine Art
wohlwollender Geringschätzung der für herzlich und liebens-
würdig, aber naiv und erziehungsbedürftig gehaltenen süddeutschen
Brüder. Bis zum Jahre 1871 kann man diese Stimmung nicht
tadeln; Rheinbunds- und Triaspolitik erhielten die wohlverdiente
Strafe. Auch bot das „Neutrum® der kurzlebig gedachten Nord-
deutschen Bundesgewalt keine Anziehungskraft gegenüber dem
königlichen Kriegsherrn aus Preussens ruhmreicher Geschichte.
Vollständig berechtigt war auch der Stolz und die Sorge für die
altpreussischen Traditionen, mit welchen das ganze Volk ver-
wachsen war vom ehrwürdigen Monarchen bis zum armen ÄAr-
beiter, der im Frieden von der sozialen Republik schwärmte und
bei Königgrätz in bewusster Hingebung für König und Vater-
land geblutet hatte. Anders muss der unparteiische Beurteiler
von der neuen Zeit sprechen. Ein machtvolles Kaisertum war
erstanden und Preussens König war der Träger der sagenum-
wobenen Krone geworden. Wenn andere Staaten dem Reiche
die Kontingentsherrlichkeit abtraten, so brachten sie und ihre
Fürstenhäuser freudig das Opfer ihrer Rechte; in Preussen verlor
die Dynastie durch einen solchen Schritt nichts; von einem Opfer
des Staates, dessen Herrscherhaus durch die Reichsgründung so
grosser Zuwachs an Macht und Ehren zuteil ward, kann gewiss
keine Rede sein. Die kleinliche Eigenbrödelei gewisser süd-
deutschen Kreise durch den kleinlichsten und nach BisMArcK’s
Ausspruch gefährlichsten und unberechtigsten Partikularismus,
den schwarz-weissen, heilen zu wollen, wäre das verkehrteste Be-
ginnen. Endlich kann auf eine Schonung wohlbegründeter alt-
preussischer Empfindungen doch kein Anspruch gemacht werden,
wo die Kriegsthaten Brandenburg-Preussens, so gut wie die
ehrenvollen Ueberlieferungen der Bayern und Schwaben, Franken
und Sachsen, Pfälzer und Alemannen wieder deutsches Gemein-
gut geworden sind, we es eine deutsche Geschichte giebt, die