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behandlung gab, welches jene Ohrenoperation vom Oktober 1897
Monate hindurch notwendig machte. So erklärt sich auch trotz
allen Leidens seine Mitarbeiterschaft an der „Jugend“, die, seit
1899 aufgenommen, besonders in das Jahr 1900 fiel. An längerem
Schreiben körperlich gehindert und von wissenschaftlicher Thätig-
keit durch Gesundheitsrücksichten abgehalten, wandte sich SEYDEL
der mehr heiteren Muse zu. Von jeher ein Meister des Bonmbot,
lieferte er namentlich in seinen „Gedanken“ manch wertvolle,
kräftige Aphorismen und Essais für die „Jugend“. Besonders
England widmete er gern witzige Schläge. Ebenso gab SEYDEL
1900 seine beiden Bände Gedichte in vermehrter, zweiter Auflage
heraus, nachdem er auch noch in der deutschen Juristenzeitung
(1900 8. 260) für die humanistische Vorbildung der Juristen eine
Lanze gebrochen. Viel zu früh entsank ihm die Feder. Aber
immerhin trotz körperlichen Leids ein Leben voll Geist und Arbeit,
voll Glück und Segen, ein schönes Leben hatte geendet.
II.
SEYDEL war eine über die Massen anziehende Persönlichkeit.
Wem es nicht vergönnt war, ihn persönlich zu kennen, der war
unwiderstehlich gepackt von der Klarheit und Schöne seiner Schrift-
sprache. SEYDEL war ein Meister des Stils. Das Geheimnis
seiner Sprache lag im Einfachen, im Schlichten. Aus seinem
Wortschatz war verbannt jede Phrase und jedes Fremdwort, aus
seinem Satzbau jedes Satzgewirre. Man muss einmal eine von
seiner Hand korrigierte Abhandlung in Händen gehabt haben;
dann weiss man sicher, dass in der Einfachheit die Grösse seiner
Sprache lag.
Ihren Höhepunkt erreichte seine Kunst der Formgebung in
seinen Gedichten. „Nie ward schwerere Aufgabe vollendeter gelöst“,
so lautet Lupwıe FRIEDLÄNDER’s Urteil über SEYDEL’s Lukrez-
Uebersetzung. Und wenn wir fragen, worin diese Vollendung
besteht, sie liegt in nichts anderem, als in einfacher, wort-