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Aber dafür der Genuss einer scharfen, klaren und darum ein-
dringlichen Gedankenführung, gewürzt durch Proben feinen,
prächtigen Witzes. Hätte ihn nicht sein körperliches Leiden
davon abgehalten, SEYDEL hätte sich nach jeder Richtung vor-
züglich zur Wirksamkeit im öffentlichen, im politischen Leben
geeignet.
Der SeyDEL eigene Humor trat auch in seiner schrift-
stellerischen Thätigkeit hervor, weniger natürlich in seinen rein
wissenschaftlichen Werken, doch begegnet er auch hier ab und
zu in den Anmerkungen. Spielen liess er ihn aber in seinen
Beiträgen zur Tageslitteratur, in seinen Aufsätzen für die politische
Presse. In Einem dagegen, wo wir ihn besonders erwarten würden,
fehlt er — von den wenigen Liedern an Hanna abgesehen —
gänzlich, in seinen Gedichten. Sie sind durchgehends ernsten
Charakters. Zu einem grossen Teil liegt dies an den gewählten
Stoffen. Seine Gedichte gehören mehr der Beobachtung der Natur,
der Schilderung der Schönheit der Erde, als der Beobachtung
der Menschen. Der Stoff, den er wählt, fordert eine hoheitsvolle
Sprache. Aber auch, wo er Seelenstimmung malt, fehlt die heitere
Muse. Ernst und zumeist sogar Schwermut liegt über den Versen.
Wie innig empfunden, aber doch wie düster klingt der Sang (Ncue
Gedichte 8. 181):
„Aus jenem Kelche hab’ ich nie getrunken,
Den Jugend an die durst’ge Lippe reisst,
War nie in jenen süssen Traum versunken,
Der Glück gewährt, indem er Glück verheisst.
Die Täuschung blieb mir fern; des Wahnes Schleier
Hat mir die Dinge schmeichelnd nie verhüllt.
Der Schmerz des Daseins war’s, der meine Leier
Mit anmutreicher Töne Flut erfüllt.
Wohl hab’ ich der Gedanken Reich durchmessen,
Nicht freudig, nein, von starrem Frost durchbebt,
Und könnt’ ich liebend nicht mich selbst vergessen,
Dies Leben wär's nicht wert, dass ich’s gelebt.“