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nicht, sondern er hat es.“ Ich wüsste nicht, auf wen dies mehr
Anwendung finden könnte, als auf ihn selbst. Seine Theorien
waren mit seinem Inneren, seiner Individualität untrennbar ver-
bunden.
Zieeigten schon die Grundanschauungen Widersprüche, um wie
viel mehr mussten solche dann noch in der Durchführung im
einzelnen hervortreten. Aber selbst wenn die Grundanschauung
zutreffend war, die historische Entwicklung verläuft nicht immer
folgerichtig. Auch aus diesem Grunde waren Widersprüche mit
dem positiven Recht unausweichlich. Zur Aufgabe seiner Grund-
ansichten vermochten sie SEYDEL nicht zu bewegen. Sich von
ihnen loszusagen, war ihm natürlich unmöglich.
Seiner Selbständigkeit entsprechend, war es überhaupt nicht
SEYDEL’s Art, sich viel mit Anschauungen anderer auseinander-
zusetzen. Dies tritt besonders in seinem bayerischen Staatsrecht
hervor. Gewiss war SEYDEL dazu zum Teil dadurch veranlasst,
dass das Werk sonst ins Unermessliche gewachsen wäre. Aber
auch über naheliegende Fragen, wie z. B. über das Wesen der
Verwaltungsrechtspflege, tritt SEYDEL in keine Auseinandersetzung
mit anderen in der Litteratur des allgemein deutschen Verwaltungs-
rechts hervorgetretenen Meinungen ein. Die Kritik anderer liess
er ruhig über sich ergehen.
Nur in einem Punkte machte er eine Ausnahme. Dann
wandte sich SEYDEL gegen die Kritik und setzte sich mit ihr in
aller Schärfe auseinander, wenn sie seine Theorie von der recht-
lichen Natur des Deutschen Reiches betraf und er sah oder
wenigstens glaubte, sehen zu müssen, dass sie von Fachgenossen
nicht als rein staatsrechtliche, sondern als mit politischen Ab-
sichten verbundene angesprochen wurde. In diesem Punkte war
er sterblich. Die Bezeichnung seiner Lehre als einer bayerischen
durch Männer der Wissenschaft versetzte ihn in heftige Ersegung.
Selbst dann konnte da sein Blut schon in Wallung geraten, wenn
seine Schule nur in dem Sinne als eine bayerische bezeichnet