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Reich einen Staat mit einer Gesellschaft als Herrscher, mit einem
sozietätsartigen Staatsoberbaupt bildet. Für den Begriff des
Staates kommt in erster Linie nicht die Gestaltung des Herrschers,
sondern das Rechtsverhältnis zwischen Obrigkeit und Unterthan
in Betracht. Die erste Frage ist, ob ein unmittelbares Herr-
schaftsverhältnis zwischen Herrscher und Unterthan besteht, d.h.
ein Verhältnis, welches nicht notwendig des Mittels eines anderen
Herrschaftsverhältnisses bedarf. Kennt das deutsche Reichs-
staatsrecht die Möglichkeit, dass der Bundesgewalt auch Indi-
viduen als Bundesangehörige unterstehen, die keinem der ver-
bündeten Staaten angehören? Würde das Deutsche Reich ein
anderes, wenn der Bayer dem Reiche nicht als Bayer, sondern
unmittelbar als Deutscher unterstünde?
Aber immerhin: SEYDEL that diese zu weitgehende, die Frage
des Verhältnisses der Bundesgewalt zu den Unterthanen unberück-
sichtigt lassende Schlussfolgerung. Allein er that sie lediglich als
juristische Schlussfolgerung, als Schlussfolgerung aus juristischer,
keineswegs aus politischer Ueberzeugung.
Grewiss, SEYDEL hing mit einer warmen, aufrichtigen Liebe an
seinem engeren Vaterland. Wäre dies nicht der Fall gewesen,
dann hätte er sich nicht gerade das bayerische Staatsrecht zum
wissenschaftlichen Vorwurf genommen, sich nicht am öffentlichen
Leben in Bayern beteiligt und sich scharfen Aeusserungen
politischer Gegner ausgesetzt. Er hielt es für seine patriotische
Pflicht, da, wo er glaubte, seinem Heimatstaate nützen zu können,
in dessen Politik auch unaufgefordert durch Beeinflussung der
öffentlichen Meinung einzugreifen. Aber keineswegs, dass er dies
nur bethätigt hätte, wo es sich darum handelte, bayerische Interessen
und Rechte gegenüber dem Reiche zu wahren, sondern er that
dies ebenso, wenn es sich um ausschliesslich innerbayerische
Verhältnisse handelte. Weiter aber nahm er nicht minder teil an
den politischen Fragen des Reiches, auch wenn dieselben speziell
bayerische Angelegenheiten gar nicht berührten. Er schrieb und