Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zwanzigster Jahrgang. 1879. (20)

194 Das beuische Reich und stint einjelnen Glitder. (Juli 2.) 
den Weise eine Reihe von Jahren hindurch betrieben worden war, und wie 
sie das Rejultat haben sollte und mußte, immer weitere Kreise nicht allein 
mit socialdemokratischen Ideen zu erfüllen, sondern zugleich in ihnen jeden 
Respect vor Gesetz, Ebrigkeit und staatlicher Rechtsordnung mit Stumpf und 
Stiel auszurotten. Tieses Resultat ist erreicht worden: die socialdemokra- 
tische Propaganda ist heute beschränkt auf diejenige von Mensch zu Mensch, 
die sich schlechterdings nicht hindern, noch verbieten läßt.“ 
2. Juli. (Deutsches Reich.) Reichstag: Zolldebatte: die 
Baumwollgarnzölle werden nach den Anträgen der Zolltarifcommission 
beschlossen, doch nicht ohne vorhergehende lebhafte Opposition: 
Die Zollsätze für die Baumwollengarne, wie sie in der Regierungs- 
vorlage und von der Tarifcommission des Hauses, wesentlich mit Rücksicht 
auf die elsaß-lothringischen Spinnereien, vorgeschlagen werden, gefährden 
nämlich im höchsten Grade die reichentwickelte Weberindustrie in den nieder- 
rheinischen Districten. Von Vertretern der dortigen Wahlkreise wird daher 
eine Ermäßigung dieser Zollsätze beantragt, tropdem die Antragsteller, Reichen- 
sperger (Crefeld). VBerger (Witten) und Windthorst, im Uebrigen zu den ersten 
Vorkämpfern des Schuhzollsystems gehören. Um der von dieser Seite drohen- 
den Gefahr, die bisher erkämpften und in der Commission im Wesentlichen 
behaupteten Zollsätze herabgemindert zu sehen. nach Kräften zu begegnen, 
beeilen sich die elsaß-lothringischen Vertreter, mit einem Antrage auf weitere 
Erhöhung der Zollsähe über die Vorschläge der Regierung und der Kom- 
mission hinaus hervorzutreten, indem sie hoffen, dadurch wenigstens die bisher 
für sie in Aussicht stehenden Zollsätze ihrem Lande zu sichern. Von fort- 
schrittlicher Seite liegt ein Antrag vor, die Zollsätze noch mehr, als der 
Antrag Reichensperger und Gen. empfahlen, herabzusetzen. Da Stimmführer 
der bisherigen Mehrheit, wie Reichensperger, Berger, Windthorst, sonach für 
die niedrigeren Jollie sich erklären, so sieht die Sache für die Spinnerei= 
interessenten von vornherein übel genug, und Herr Reichensperger (Crefeld) 
kann mit gutem Grunde ironisch darauf hinweisen, daß dieß der Grund sein 
dürste, wenn heute der Hauptvertreter des Zolltarifs, Frhr. v. Varnbüler, 
selbst das Wort nimmt. Nach längerer Debakte kommen denn auch, wider 
allgemeines Erwarten, die Zollsätze der Commission zur Annahme. 
2. Juli. (Deutsches Reich.) Reichstag: Tarifcommission: 
bewit die erste Lesung der Finanzzölle. 
In 1e Betreih den Petroleumzolls und des Kaffeezolls wird kein Resultat 
erzielt. Für die Regierungsvorlage stimmen die Deuisch- onservativen und die 
deutsche iUeichpoartei, für niedrigere Sähe das Centrum, für die niedrigsten 
die Nationalliberalen und die Fortschrittspartei. Somit gelangt kein Zoll 
auf beide Objecte zur Annahme. Die Hoffnung auf eine Verständigung ist 
jedoch nicht aufgegeben, da die Centrumsfraction die Frage, ob ein Com- 
promiß über Feststellung der Sähe mit der Regierung abzuschließen sei, er- 
wägen will. Eben darum wird die zweite Lesung der Finanzzölle von der 
Commission vorerst noch verschoben. 
-a die Nationalliberalen die Hoffnung nähren, daß der Reichskanzler 
sich doch boch von dem clerical-confervativen Compromiß abwenden und mit 
ihnen pactiren könnte — eine Eventualikät, von der man bei der Art der 
reichskanzlerischen Strategie allerdings zugestehen muß, daß sie, wenn auch 
wenig wahrscheinlich, doch nicht ganz ausgeschlossen ist — so ist es bezeich- 
nend, daß die „Nordd. Allg. Ztg.“, ihr bisheriges Schweigen brechend, sich 
in einem schneidigen Artikel für den Franckensen schen und gegen den Ben-
	        
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