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Was den ersten Einwand betrifft, so berief ich mich dem-
gegenüber auf WINDSCHEID, der es für die Aufgabe des Richters
erklärt, den Willen des Gesetzgebers nicht nur da zu erforschen,
wo dieser das von ihm Gewollte in einen mangelhaften Ausdruck
gekleidet hat, sondern auch da, wo er einen Gedanken überhaupt
nicht gedacht hat, wo aber anzunehmen ist, dass, falls er dies
gethan hätte, er seine Entscheidung in einem bestimmten Sinne
getroffen haben würde. Es ist richtig, dass dieser Standpunkt
die Aufgabe des Richters wesentlich erweitert, aber es entspricht
meines Erachtens dem Interesse der Rechtsentwicklung, wenn der
Richter nicht auf das enge Gebiet der Auslegung des gegebenen
Gesetzes beschränkt, sondern zu einem Recht schaffenden Organe
gemacht wird.
Dass in den Handbüchern des Staatsrechts zwischen der Rechts-
stellung eines regierungsfähigen und eines regierungsunfähigen
Landesherrn nicht unterschieden wird, ist richtig, aber der Fall
einer Regentschaft für einen regierungsfähigen Landesherrn, wie er
in Braunschweig besteht, ist in der That der erste seiner Art. Bisher
hatte man, wo politische Gründe, insbesondere eine Missregierung
dazu geführt hatten, einem solchen Herrscher die Regierung vorzu-
enthalten, einfach Thronentsetzung eintreten lassen. Noch in dem
Falle des Herzogs Karl war demgemäss verfahren. Hat man
jetzt zuerst zu dem Mittel einer blossen Regentschaft gegriffen,
so kann man auf das Vorbild der Regentschaften für regierungs-
unfähige Landesherren offenbar nicht zurückgreifen, sondern muss
die Anhaltspunkte unter Beobachtung der bisherigen Rechts-
entwicklung gewinnen, d. h. man muss die Richtungslinien, die
sich in ihr erkennen lassen, weiter ziehen, um zu ermitteln, welche
Konsequenzen in der Rechtsbildung gewissermaassen potentiell
enthalten sind und nur auf Ausgestaltung warten. Ist das Recht
ein Organismus, dessen Triebkraft auf dem unbewusst schaffenden
Volksgeiste beruht, so muss von ihm dasselbe gelten wie von
der Pflanze, deren spätere Gestalt ebenfalls in ihrem Keime be-