Full text: Archiv für öffentliches Recht.Sechzehnter Band. (16)

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hat, begann die Disziplin des internationalen Rechts sich allmählich 
von der „politischen“ Spreu zu befreien. Man fing an, deutlicher 
zwischen lex lata und lex ferenda, zwischen der Sphäre des gel- 
tenden Rechts und dem Gebiet der frommen Wünsche zu unter- 
scheiden. Die Konstruktionen wurden feiner, und auf dem all- 
gemeinen Hintergrunde der Rechtsbegriffe traten die spezifisch 
völkerrechtlichen Rechtskategorien schärfer hervor. Die Lehre 
von den Subjekten des Völkerrechts (den Staaten) erhielt grössere 
Präzision, tiefer wurde die Theorie der Staatenverbindungen, der 
völkerrechtlichen Verträge, des internationalen Privatrechts u. s. w. 
erforscht. 
Zugleich entbrannte ein heftiger Kampf gegen das Natur- 
recht. In ihm ersah man die Wurzel alles Uebels; ihm, so 
hiess es, verdanke das Völkerrecht alle seine Mängel. Die 
„Orgien“, welche die Theorie auf diesem Gebiete feiert!, erklären 
den gleichsam schwankenden Zustand dieser Wissenschaft. 
Von seiten der Fachmänner des Völkerrechts war eine der- 
artige Verfolgung des Naturrechts offenbarer Undank. Das 
Völkerrecht (als selbständige Doktrin) entstand ja gerade als 
Naturrecht; ohne das letztere wäre auch das erstere gar nicht 
vorhanden. Den ersten Lehrern unserer Wissenschaft erschienen 
die Verhältnisse zwischen den einzelnen Staaten und die Be- 
ziehungen zwischen Privatpersonen als völlig identisch. Die 
Normen, welche dem civilrechtlichen Verkehr zu Grunde liegen 
und denselben regeln, mussten, ihrer Ansicht nach, auch auf die 
gegenseitigen Beziehungen der Staaten übertragen werden. Diesen 
Standpunkt kann man ohne Mühe in den Werken eines PUFFEN- 
DORF, 'THOMASIUS, BARBEYRAC, BOURLAMAQUI, VATTEL u. 4. Ver- 
1 JELLINEK, System der subjektiven öffentlichen Rechte 1892 S. 297: 
„Während auf allen Rechtsgebieten die Unhaltbarkeit einer Doktrin längst 
eingesehen wurde, welche sowohl Rechtssubjekte als auch Rechte und Pflichten 
auf Grund einer dem positiven Rechte vorangehenden und dieses meisternden 
Rechtsordnung schafft, feiert das alte Naturrecht in den Systemen des 
Völkerrechts noch immer seine wohlbekannten Orgien.“
	        
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