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hat, begann die Disziplin des internationalen Rechts sich allmählich
von der „politischen“ Spreu zu befreien. Man fing an, deutlicher
zwischen lex lata und lex ferenda, zwischen der Sphäre des gel-
tenden Rechts und dem Gebiet der frommen Wünsche zu unter-
scheiden. Die Konstruktionen wurden feiner, und auf dem all-
gemeinen Hintergrunde der Rechtsbegriffe traten die spezifisch
völkerrechtlichen Rechtskategorien schärfer hervor. Die Lehre
von den Subjekten des Völkerrechts (den Staaten) erhielt grössere
Präzision, tiefer wurde die Theorie der Staatenverbindungen, der
völkerrechtlichen Verträge, des internationalen Privatrechts u. s. w.
erforscht.
Zugleich entbrannte ein heftiger Kampf gegen das Natur-
recht. In ihm ersah man die Wurzel alles Uebels; ihm, so
hiess es, verdanke das Völkerrecht alle seine Mängel. Die
„Orgien“, welche die Theorie auf diesem Gebiete feiert!, erklären
den gleichsam schwankenden Zustand dieser Wissenschaft.
Von seiten der Fachmänner des Völkerrechts war eine der-
artige Verfolgung des Naturrechts offenbarer Undank. Das
Völkerrecht (als selbständige Doktrin) entstand ja gerade als
Naturrecht; ohne das letztere wäre auch das erstere gar nicht
vorhanden. Den ersten Lehrern unserer Wissenschaft erschienen
die Verhältnisse zwischen den einzelnen Staaten und die Be-
ziehungen zwischen Privatpersonen als völlig identisch. Die
Normen, welche dem civilrechtlichen Verkehr zu Grunde liegen
und denselben regeln, mussten, ihrer Ansicht nach, auch auf die
gegenseitigen Beziehungen der Staaten übertragen werden. Diesen
Standpunkt kann man ohne Mühe in den Werken eines PUFFEN-
DORF, 'THOMASIUS, BARBEYRAC, BOURLAMAQUI, VATTEL u. 4. Ver-
1 JELLINEK, System der subjektiven öffentlichen Rechte 1892 S. 297:
„Während auf allen Rechtsgebieten die Unhaltbarkeit einer Doktrin längst
eingesehen wurde, welche sowohl Rechtssubjekte als auch Rechte und Pflichten
auf Grund einer dem positiven Rechte vorangehenden und dieses meisternden
Rechtsordnung schafft, feiert das alte Naturrecht in den Systemen des
Völkerrechts noch immer seine wohlbekannten Orgien.“