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kann, müssen zwei Bedingungen vorhanden sein. Erstens, ist es
nötig, dass der Staat oder seine Organe in dem Rahmen und
mit Beobachtung der Formen handle, die von der inneren Ge-
setzgebung festgesetzt sind. Der Wille des Staates muss sich
also in einer gewissen, vom Gresetz bestimmten Richtung aus-
drücken. Hierin stimmen alle modernen Gesetzgebungen überein,
und auch die meisten Staatsverfassungen führen auf die allerkate-
gorischeste Weise das Prinzip der Gebietsunteilbarkeit durch ®%,
Zweitens, dürfen territoriale Erwerbungen eines Staates nicht
die Rechte anderer Völker, Mitglieder der internationalen Völker-
gemeinschaft, verletzen. Die Bedingungen für die Rechtmässigkeit
einer Erwerbung von diesem Standpunkte aus sind vom Völker-
recht festgesetzt; hier sind die Rechtstitel angeführt, auf die ein
Staat sich berufen kann, um von den andern die Anerkennung
der stattgefundenen Gebietserweiterung zu verlangen. In der
Hauptsache können diese Bedingungen wie folgt zusammen-
gefasst werden.
Bei seinem fortschreitenden Wachstum kann ein Staat erstens
auf solche Landflächen stossen, die überhaupt unter keiner Souve-
ränität stehen. In diesem Falle hindert ihn nichts, seine Macht
— mit Beobachtung einiger Formalitäten — ad infinitum aus-
zubreiten. Die Erwerbung vollzieht sich kraft Occupation,
welche nichts anderes als eine Erweiterung der Grenzen der
Staatsgewalt darstellt, ein Vorwärtsbewegen auf einer von recht-
lichen Hindernissen freien Bahn. Sobald jedoch ein Landstrich
oder Gebiet sich schon unter der Herrschaft eines Völkerrechts-
subjekts befindet, kann von einer Occupation keine Rede sein,
und eine Ausbreitung der Staatsgewalt ratione loci ist nur mit
Einwilligung des Territorialherrn möglich. Nur auf Grund eines
regelrecht geschlossenen und ratifizierten Vertrags ist ein Ver-
ringern des einen Staates und ein Wachsen des andern auf
36 Siehe z. B. Art. 8 der Belgischeu Konstitution vom Jahre 1868 u. s. w.