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des Gebotenen möglich wird. Sie bleiben uns fremd, auch wenn wir die
Sprache des Originals beherrschen, und wenn sie uns auch in so trefflicher
Uebersetzung geboten werden, wie es beim vorliegenden Buche der Fall ist.
Dr. Scholz hat mit feinem, sachlichem Gefühl abgetönt, wo die berauschende
Rhetorik des italienischen Meisters der Rede das Nachdenken mehr erschwert
als befördert, er hat auch den litterarischen Apparat fachkundig ausgebaut
und ergänzt. Trotz alledem ist die Studie im deutschen Kleide erratisch in
unserer fachlichen Gesammtlitteratur. Sie leidet an zwei Grundfehlern: der
Unterschied zwischen einer begeisternden Rede und einer wissenschaftlichen
Untersuchung ist nicht bloss im psychologischen und ästhetischen Effekt ge-
legen, sondern er ist stofflicher Natur. Beim Uebergang aus dem einen
Aggregatzustand in den andern ändert sich die Substanz und damit ihre
spezifische Wirkung. Bei aller darauf verwandten Mühe versagt die Mosaik
der aneinander gereihten Citate und leuchtkräftigen Bruchstücke. Es fehlt
am künstlerisch und wissenschaftlich befriedigenden Gesammteindruck, der der
festlichen Rede PIERANToNTs sicher nicht abging.
Die zweite Fehlerquelle ist prinzipieller Natur. PıerANnTonı glaubt, der
Fortschritt des Völkerrechts im XIX. Jahrhundert sei idealer Natur, sei in
der Hebelkraft der „grands mots“ zu suchen, in der Propaganda gewisser
leitender Prinzipien, so des Nationalitätsprinzips, des Prinzips der Nicht-
Intervention etc. Ich kann vom Standpunkte des positiven Völkerrechts
diese Ueberschätzung der Wechselwirkung zwischen Ideen nnd historisch-
praktischer Gestaltung des Völkerlebens nicht theilen. Meiner am diplo-
matischen Aktenmaterial und internationalen Vertragsstoff gewonnenen Ueber-
zeugung nach liegt der Fortschritt des Völkerrechts im XIX. Jahrhundert
weit weniger in der ausgebreiteten Herrschaft grosser in Allgemeingeltung
stehender Ideen als im unendlich verzweigten Detail der positiven verkehrs-
rechtlichen Institutionen. Wenn ich in Rhetorik hier verfallen wollte, würde
ich sagen: die Briefmarke und die Postanweisung, das metrische System und
der Morse’sche Apparat, Ursprungscertifikate und Handlungsreisende etc.
haben weit mehr zur Ausgestaltung des internationalen, rechtlich geordneten
Verkehrs, zur Ueberbrückung der Gegensätze beigetragen, als volltönende
Prinzipien mit engbegrenzter realer Durchführbarkeit.
Mein Widerspruch soll natürlich diejenigen nicht abhalten, zum anregend
geschriebenen Buch zu greifen, die auch in wissenschaftlichen Fragen an
fliessender Oauserie Geschmack finden. Stoerk.