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rung des Staatswillens mehr zu bewirken vermag. „Bildet sich
doch ohne Rücksicht auf das bestehende Recht neues Recht
z. B. in einer Revolution, in einem Sezessionskriege, giebt es
doch viele Verträge, die nicht auf dem bestehenden Recht ba-
sieren; warum sollte nicht auch Gewohnheitsrecht trotz der
Untersagung durch die bestehende Rechtsordnung entstehen
können?“ (STAMMLER).
Es folgt ferner, dass es überhaupt ein Völkergewohnheits-
recht geben kann. Zunächst ist festzustellen, dass das Völker-
gewohnheitsrecht sich vom Landesgewohnheitsrecht
materiell wesentlich unterscheidet. Der Staat kann jedoch
dem Völkergewohnheitsrecht seine Garantie zuwenden und es
dadurch für seine Unterthanen dem Landesgewohnheitsrecht
gleichstellen. Gleichwohl besteht das Völkergewohnheitsrecht für
sich allein. Hinter ihm steht eine wenn auch unvollkommene
Zwangsorganisation, in der wiederum der staatliche Zwangs-
apparat neben spezifischen Völkerrechtsorganen als mehr un-
eigentliches Organ inbegriffen sein kann. Die Schwäche dieser
Organisation bedingt übrigens die eigentümliche Mittelstellung
des gesamten Völkerrechts. Während einerseits des Bestehen
einer Organisation die Völkerrechtsgemeinschaft zu einer Sozial-
potenz, einem „Weltstaat“ macht, ihr Recht, namentlich soweit
es durch Verträge positiviert ist, als vollkommenes Recht er-
scheinen lässt, bewirken andererseits die Mängel dieser Orga-
nisation und die mannigfachen Partikularitäten der Rechts-
beziehungen den gewohnheitsrechtlichen Charakter dieses Rechts
selbst in den Grundlagen des Völkervertragsrechts. Es manifestiert
so die Relativität des Staats und der Völkerrechtsgemeinschaft,
sowie des Gewohnheits- und des positiven Rechts.
Die theoretischen Schwierigkeiten in der Auffassung des
Gewohnheitsrechts rühren im wesentlichen von der Verquickung
desselben mit dem Naturrecht her, die sich auch in der herr-
schenden Ansicht zu erkennen giebt (Ueberzeugungstheorie),