— 466 —
durchaus nicht gleichen Schritt gegangen, gerade so, wie in Bezug auf das
Verfassungsrecht der Vormarsch stark gebrochene Linien aufweist. Sie stehen
dabei in innigster geistiger Gemeinschaft, beeinflussen sich gegenseitig, 30
dass die Vorgeschrittenen in der Verwirklichung der angenommenen Grund-
sätze gehemmt, die Zurückgebliebenen aber zu prinzipwidrigen Nachahmungen
getrieben werden. Zum mindesten wird hier in der Ausdrucksweise, in
äusserlichen Redewendungen dem „Zeitgeiste* Rechnung getragen. Für die
Frage: Rechtsstaat oder nicht, wird die Grundrichtung, der Gesamtcharakter
entscheidend sein, und da ist zuzugeben, dass im Einzelfalle gestritten werden
kann, ob der Rechtsstaat an einem bestimmten Punkte schon da war.
Das wichtigste Stück des Rechtsstaates, wie der Verf. richtig hervor-
hebt, ist die Herrschaft des Gesetzes, der Grundsatz der gesetzmässigen Ver-
waltung. Gerade in dieser Beziehung muss man aber recht vorsichtig sein,
um sich nicht durch den Schein täuschen zu lassen. Denn dass das Gesetz
eine massgebende Rolle im Staatsleben spielt, ist eine alte Sache. In der
Geschichte der Staatsrechtstheorien kommt das in den verschiedensten For-
men zum Ausdruck. Für den Rechtsstaat ist bezeichnend die besondere
ihm eigentümliche Rolle, die er dem Gesetze zuweist, und dass gerade diese
in Frage sei, ist zu beweisen. Unter diesem Gesichtspunkte scheint es mir
aber doch sehr zweifelhaft, ob das Preussen des Allgemeinen Landrechts
schon sofort um dieses Gesetzbuches willen den Namen Rechtsstaat in dem
bestimmten Sinne verdiene, wie ihn der Verf. versteht und wie ich auch
meinerseits ihn annehmen würde.
Es besteht nun einmal ein gewisser Zusammenhang zwischen den zwei
Dingen Verfassungsstaat und Rechtsstaat. Und zwar erscheint der erstere
als die Voraussetzung des letzteren. Es ist schon öfter gesagt worden, dass
auch nach Einführung der Verfassung der alte Polizeistaat noch eine Weile
mehr oder weniger kräftig fortzudauern pflegt. Das Umgekehrte, dass erst
der Rechtsstaat durchgeführt wird und nachher auch die Verfassung dazu
kommt, dürfte ausgeschlossen sein. Es kommt freilich darauf an, was man
sich unter einem Rechtsstaat vorstellt. Wenn man aber mit dem Verf. als
wesentliches Merkmal des Rechtsstaates erkennt die Herrschaft des Gesetzes
auch in der Verwaltung, so ist das thatsächlich nur zu verwirklichen, wo
das Gesetz durch die Teilnahme der Volksvertretung jene Selbständigkeit
und Unverbrüchlichkeit erhalten hat, die eben nur die Verfassung in dem
prägnanten Sinn des konstitutionellen Systems gewährleistet. Das ist ja
auch der wahre Kern in Montzsquieu’s Lehrsatz, dass die bürgerliche Frei-
heit bedingt sei von der Trennung der Gewalten.
Der Versuch wäre ja denkbar, die Herrschaft des Gesetzes auch ohne
Verfassung durehzuführen; diese Herrschaft würde immer etwas prekäres be-
halten. Hat aber das Preussische Landrecht wirklich diesen Versuch ge-
macht? Es scheint mir nicht, dass der Nachweis, wie ihn der Verf. liefern
möchte, gelungen ist. Gesetz ist im älteren Staatsrecht die Aufstellung vor