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sonders vorgesehenen Fällen zulässig. Art. 822 erhält auf diese
Weise Sinn und Bedeutung des feudalrechtlichen Aphorismus
„toutes coutumes sont reelles“, wobei augenscheinlich angenom-
men wird, dass durch ihn für alle möglichen Fälle von Gesetz-
kollisionen das territoriale Prinzip sanktioniert wird. In der
russischen Gerichtspraxis herrscht der eigenartige Usus, genannten
Artikel in allen schwierigen Fällen anzuwenden und mit seiner
Hülfe die verwickeltsten Knoten zu zerhauen. Man kann eine
ganze Reihe von Senatsentscheidungen anführen, wo Art. 822 so-
zusagen die Rolle eines Rettungsrings zu spielen hatte, indem
er das Richterkollegium von einer Analyse des strittigen Rechts-
falles enthob. So hatte z. B. im Falle Günter der Senat die
Frage zu entscheiden vom Recht eines Ausländers, seine in Russ-
land mit einer russischen Staatsangehörigen gezeugten Kinder zu
legitimieren (Entscheidung des Civildepartements vom Jahre 1894,
No. 62). Bekanntlich ist ein solcher Fall im Gesetz vom Jahre
1891, welches die Legitimation der Kinder regelt, nicht direkt
vorgesehen. Die Frage wäre also auf dem Wege der Inter-
pretation nach den allgemeinen Prinzipien des internationalen
Privatrechts zu lösen. Statt dessen begnügte sich der Senat mit
einem Hinweis auf Art. 822 und fällte folgende Entscheidung:
da überhaupt Rechtssachen der Ausländer den russischen Ge-
setzen unterliegen, so hat sich auf sie auch die Wirkung des
Gesetzes vom 12. März 1891 zu erstrecken. Noch bestimmter
trat im Falle Jagisch (1888 No. 34) die Ansicht hervor, dass
Art. 822 eine Kollisionsnorm vorstellt. Die Frage war die: nach
welchen Gesetzen ist der Nachlass eines in Russland verstorbenen
Ausländers (österreichischen Staatsangehörigen) zu regeln? Es
sollte doch scheinen, dass diese Frage kategorisch und erschöpfend
durch Art. 835 der „Ständegesetze* (Bd. IX) beantwortet wird,
2 Auch im Jahre 1898 (No. 32) gelangte der Senat in einem analogen
Falle zu dem gleichen Resultat.