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welcher lautet: „Die Erbfolge von Ausländern, Besitztum be-
treffend, das sich in Russland befindet, wird von den allgemeinen,
für die eigenen Unterthanen geltenden Regeln bestimmt.“ Trotz-
dem fand es der Kassationshof für nötig, sich auch auf Art. 822
zu berufen, welcher seiner Ansicht nach die allgemeine Regel
konstruiert, während Art. 835 nur als ein Fall partikulärer An-
wendung derselben erscheint.
Diese beiden Beispiele charakterisieren zur Genüge die Rolle,
welche Art. 822 in der russischen Gerichtspraxis spielt. Es wird
ihm die Bedeutung einer absoluten Kollisionsnorm gegeben, welche
prinzipiell ein Anwenden ausländischer Normen auf solche Rechts-
verhältnisse verbietet, die zur Kompetenz russischer Gerichte ge-
hören. Dabei ist das russische Gesetz nicht bloss in dubio an-
zuwenden, sondern überhaupt in allen Fällen, wo das Gegenteil
nicht expressis verbis in den Gesetzen selbst bestimmt ist (z. B.
Art. 464 u. 707 C.-P.-O.).
Ist aber eine derartige Auffassung wohl richtig und war es
thatsächlich die Absicht des Gesetzgebers, Art. 822 die Rolle
einer solchen schonungslosen „Konfliktsguillotine“ zu übertragen?
Zur Beantwortung dieser Frage wird es nötig sein, einen Blick
auf die Entstehungsgeschichte dieses Artikels zu werfen.
In der Litteratur? ist schon mehrfach auf den Umstand hin-
gewiesen worden, dass Art. 822 seinem Inhalte nach gar nicht
mit den Quellen übereinstimmt, welche bei ihm angeführt sind.
Seinem ersten Teil ist nämlich $ 446 Zollreglem. vom 30. Dez.
1819 ‘zu Grunde gelegt, welcher lautet: „Kein russischer Unter-
than noch Ausländer können sich mit Unkenntnis des Gesetzes
entschuldigen“, während für den zweiten Teil dieses Artikels
folgende Gesetzakte genannt werden:
a) das Manifest vom 16. April 1702, welches die Berufung
8 A. MAnDELSTAmM, Die Hauger Konferenzen (russisch) 1900, Bd. II
S. 59; NoLpe, Ueber Kollision verschiedener Ortsgesetze (russisch) im
„Rechtsboten“ 1900 No. 7 8. 9, 10.