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letztere sprach sich dahin aus, dass in solchen Fällen dem Ge-
richt volle Aktionsfreiheit gegeben sei.
Die letzte Frage, bei der wir zu verweilen haben, ist folgende:
Vermag wohl eine Verletzung eines ausländischen Gesetzes Kassa-
tion der Grerichtsentscheidung begründen? Im Westen ist diese
Frage äusserst strittig, und sowohl die Praxis als auch die
Theorie befinden sich noch in einem schwankenden Zustande.
Streng genommen sind zwei Fälle zu unterscheiden:
a) Der Richter hat sein nationales Recht angewandt, wo
ein ausländisches Gesetz am Platz gewesen wäre, oder nicht das-
jenige fremde Gesetz in Betracht gezogen, welches die inländische
Konfliktsnorm (oder ein völkerrechtlicher Vertrag) im Auge hat,
z. B. anstatt, nach Art. 464 russ. O.-P.-O., die Form eines in
Deutschland zwischen einem Russen und einem Franzosen ab-
geschlossenen Rechtsgeschäfts nach den deutschen Gesetzen zu
beurteilen, hat das russische Gericht in diesem Falle das russische
oder das französische Recht angewendet. Nach der jetzt allgemein
geltenden Ansicht!® unterliegt das Urteil des Gerichts in diesem
Falle zweifelsohne der Kassation. Wie schon oben bemerkt, ent-
scheidet das Gericht das strittige Rechtsverhältnis nach diesem
oder jenem Gesetz nicht nach seinem Gutdünken, sondern auf
Grund des Gebotes der für dasselbe obligatorischen Konflikts-
norm. Darum unterscheidet sich eine falsche Anwendung dieser
letzteren in nichts von einer Verletzung einer beliebigen Norm
des inneren Rechts und muss folglich die Zulassung eines An-
trags auf Kassation nach sich ziehen.
b) Der Richter hat das ausländische Gesetz zwar angewandt,
aber es falsch interpretiert. In der Litteratur sprechen sich sehr
viele Schriftsteller gegen die Möglichkeit einer Kassation in diesem
Falle aus, und auch die Gerichtspraxis neigt sich im allgemeinen
15 Siehe A. Weiss, Traite theorique et pratique de droit international
prive 1898, III, 172 et suiv.
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