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dividuellen Willens, welcher durch einen dem objektiven Recht
entsprechenden Zweck bestimmt werde. Auch das Wahlrecht ist daher
weder ein Recht noch eine Funktion; ebensowenig ist der Wähler ein
Organ des Staates oder der Staat der wahre Träger des Wahlrechts; sondern
das Wahlrecht ist eine Macht, im Rechtsbereich wirksam etwas zu wollen;
eine objektive Macht eines individuellen Willens. Diesem pouvoir
objectif entspreche ein devoir objectif, die Pflicht zur Ausübung aller poli-
tischen Obliegenheiten, welche in ihrer Macht enthalten sind. Das positive
Gesetz könne diese Macht und diese Pflicht ausgestalten, aber nur nach
Massgabe des auf den sozialen Gesamtinteresse beruhenden objektiven
Rechts, welches dem positiven Gesetz und dem Staat selbst überlegen ist.
(8. 118). Den Sinn dieser Theorie erläutert der Verf. durch folgende
Ausführung (8. 124). Eine absolute Monarchie ist vorhanden, wenn in einem
Lande Ein Mann mächtiger ist als alle zusammen. Wenn dieser Mann ein
Gesetz giebt, durch welches die Unterthanen zur Teilnahme an den öffent-
lichen Angelegenheiten berufen werden, so sind zwei Fälle möglich. Ent-
weder steht das Gesetz im Widerspruch mit dem gesellschaftlichen Zustande,
der Monarch giebt einen Teil seiner Macht auf zu gunsten von Personen,
welche unfähig sind, davon den rechten Gebrauch zu machen; alsdann ist
das Gesetz ohne Bedeutung und schafft nur einen schnell verschwindenden
Zustand. Richter und Verwaltungsbeamte müssen es anwenden; der Jurist
dagegen wird darin nur einen Akt ohne Tragweite erblicken. Oder das
Gesetz entspricht den gesellschaftlichen Verhältnissen, der Monarch ist für
sich allein nicht mehr mächtiger als alle anderen zusammen; alsdann ist die
Teilnahme der einzelnen am Leben des Staates bereits in dem objektiven
Recht gegeben und das Gesetz des Monarchen schafft nicht ein neues Recht,
sondern erkennt nur ein schon bestehendes pouvoir objectif an. Andererseits
bedeutet in einer Demokratie die Volkssouveränität nichts anderes als die
Thatsache, dass die zahlreicheren die stärkeren sind und die Majorität ihren
Willen der Minorität aufzwingt.
Hinsichtlich der Volksvertretung stellt der Verf. folgende Lehre auf.
Ein Parlament kann so wenig wie irgend ein anderes Kollegium einen ein-
heitlichen oder Gesamtwillen haben; ein Beschluss ist nicht die Aeusserung
eines Willens der Versammlung, sondern nur die Feststellung, dass die
grössere Zahl der Mitglieder einen übereinstimmenden Willen geäussert habe.
Diese Thatsache schafft kein Gesetz und bringt keine Rechtswirkung
hervor, sondern ist nur eine Bedingung oder Voraussetzung, welche zur
Hervorbringung einer Rechtswirkung von Rechtswegen erfordert wird. Es
giebt nur individuelle Willen. Die Schaffung eines Kollegiums bedeutet,
dass der individuelle Wille des einzelnen nur in dem Falle eine Rechts-
wirkung habe, dass derselbe Wille zugleich von einer gewissen Anzahl anderer
Mitglieder geäussert werde. Die Mitgliedschaft im Parlament, mag sie auf
Wahl oder auf irgend einem andern Grunde beruhen, ist kein subjektives