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ein Rechtssatz für jemanden gewirkt hat; man kann sich darauf berufen,
man hat Anspruch auf seine Einhaltung. Soll im Ernste behauptet werden,
die Bürger hätten einen Anspruch auf Einhaltung der Gehaltsregulative?
Natürlich nicht. Dann darf man aber auch nicht durch derartiges un-
praktisches Gerede dem Rechtssatz alle feste Form und Gestalt nehmen.
Die nämliche Unklarheit über Natur und Bedeutung des Rechtssatzes
schwebt auch über dem Haupt- und Staatsargument, das der Verf. so breit
und siegesgewiss gegen die „herrschende Theorie“ ins Feld führt (S.64 ff.). Er
verwertet hier vor allem den Titel II der Verfassungsurkunde: von den
Rechten der Preussen, die sog. Grundrechte. Sein Gedanke ist der: es ist
falsch, anzunehmen, dass nach dem Willen der Verfassung Rechtssätze nur
durch das Gesetz oder mit seiner Ermächtigung geschaffen werden könnten;
denn sonst wären zahlreiche Bestimmungen der Verfassungsurkunde, welche
für gewisse Eingriffe ein Gesetz verlangen, ein „reines superfluum“, da es
sich bei diesen Eingriffen ohnehin um einen Rechtssatz handelt, das Gesetz
also nach jener Meinung auch ohne solche Bestimmung notwendig wäre.
Mit der Logik der Verfassungsurkunde darf man nicht allzu streng rechnen.
Aber das Zwingende der Schlussfolgerung des Verf. wollen wir nicht be-
streiten. Es fragt sich nur, ob seine praemissa minor richtig verstanden ist.
Gewisse Eingriffe sind dem Gesetze vorbehalten, sie sollen nur nach seinem
Willen geschehen. Was bedeutet das? Wir geraten hier mitten in die Lehre
von der Trennung der Gewalten und das macht die Sache doppelt inter-
essant. Denn der Verf. hat S. 225 die Priorität, diese Lehre wieder zu
Ehren gebracht zu haben, in einer Weise in Anspruch genommen, die bei
den von ihm so schlecht angesehenen „weltfremden Gelehrten“ nicht eben
üblich ist, Wir lassen es dahingestellt, ob er überhaupt etwas zu Ehren ge-
bracht hat, und fragen nur, was das ist, was er zu Ehren gebracht haben will.
Es wird hier vor allem ankommen auf einen bestimmten Begriff von
der gesetzgebenden Gewalt. Die Lehre, der gegenüber der Verf. die Prio-
rität in Anspruch nimmt, versteht darunter die besondere Fähigkeit des in
der Form des Gesetzes erscheinenden Staatswillens, gewisse rechtliche Wir-
kungen zu erzeugen. Eine dieser Besonderheiten ist die, dass nur nach dem
Willen des Gesetzes Rechtssätze im Staate geschaffen werden können. Eine
andere, dass nur nach dem Willen des Gesetzes gewisse Eingriffe in Freiheit und
Eigentum der Unterthanen stattfinden dürfen; die sog. Grundrechte bestimmen
die also vorbehaltenen Eingriffe. Dassind zweibegrifflich wohl zuunterscheidende
Dinge; sıe können vereinigt erscheinen, aber sie müssen es nicht. Ein Ge-
setz kann einen Rechtssatz enthalten, ohne einen Eingriff in Freiheit und
Eigentum vorzustellen (das hat Anscuürz verkannt). Ein Gesetz kann einen
Eingriff bedeuten, ohne ein Rechtssatz zu sein (Beschlagnahme des Ver-
mögens des Königs von Hannover).
Der Verf. kann natürlich an dem Begriffe der gesetzgebenden Gewalt
auch nicht vorbeigehen, wenn er sich mit der preussischen Verfassung be-
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