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Dr. James Goldschmidt, Das Verwaltungsstrafrecht. Eine Uhnter-
suchung der Grenzgebiete zwischen Strafrecht und Verwaltungsrecht
auf rechtsgeschichtlicher und rechtsvergleichender Grundlage. Berlin,
Carl Heymanns Verlag, 1902. XIII und 603 S. M. 12.—.
Die umfangreiche Arbeit beginnt mit einer Vorrede, welche ausser
einer bescheidenen Selbstkritik des Geleisteten eine Bezeichnung des Zieles
der Abhandlung enthält. Dieses Ziel ist ein doppeltes: der Nachweis der
Unrichtigkeit der im 19. Jahrhundert herrschenden Rechtstheorien über die
Natur des sog. Polizeiunrechts und die Lostrennung des Verwaltungsstraf-
rechts vom eigentlichen Strafrecht (Verfassungsstrafrecht).. Ob ihm das
Erstere gelungen ist, wird zu untersuchen sein; die zweite Absicht kann man
von vornherein begrüssen, denn sie soll die wichtige Aufgabe der jungen
Verwaltungsrechtswissenschaft fördern, ihr Gebiet abzugrenzen, wobei ja nicht
nur vom deutschen Privatrecht, wie OTTO MAYER in seinem deutschen Ver-
waltungsrecht betont, sondern auch noch von mancher anderen Rechts-
disziplin eine Reihe von Rechtsinstituten herauszuverlangen sein werden.
Das Buch, welches schon bei oberflächlicher Lektüre durch den grossen
Reichtum an gesammeltem und verarbeitetem Material auffällt, besteht aus
zwei ungleichen Hauptabschnitten: einem grösseren, historisch-rechtsver-
gleichenden (525 S.) und einem kleineren dogmatischen Teil (57 S... Um
dem oft recht verwickelten und eigenartigen Gedankengange des Autors
gut folgen zu können, muss man eigentlich den zweiten, den dogmatischen
Teil, zuerst lesen. Denn im Lichte der dort aufgestellten abstrakten, mehr
philosophischen als juristischen Theorie ist der ganze erste Abschnitt ge-
arbeitet, ist der reichhaltige, vielgestaltige Stoff verwertet und geformt.
Weniger die Macht der geschichtlichen Tatsachen als die lebhafte Gedanken-
welt des Verf. spricht aus dem ganzen Buche.
Zwei abstrakte Begriffe, welche sowohl im Leben jedes einzelnen
Menschen wie in dem der menschlichen Gesellschaft eine Rolle spielen,
sind es, die der Verf. seinem ganzen Gedankengebäude zu Grunde legt: das
Wollendürfen (Ausdruck nach JELLINER), d. h. die durch Ko&xistenz
mehrerer Willensträger bedingte, abgegrenzte Machtsphäre für die Willens-
bethätigung des einzelnen, deren Feststellung erst die Möglichkeit mensch-
lichen Zusammenlebens schafft (S. 530); und die Wohlfahrt, d. h. der von
der Gesamtheit angestrebte, aber unerreichbare Zustand ideeller und mate-
rieller Vervollkommnung (S. 530, 533). Den Zweck des Wollendürfens ver-
wirklicht die menschliche Gesellschaft durch die Verfassung, das
ist die Erklärung des allgemeinen Willens über den zur Zeit anzuerkennen-
den Umfang der Machtsphäre der einzelnen Willensträger (S. 581). Der
Zweck der Wohlfahrt wird angestrebt mittelst der Verwaltung der mensch-
lischen Gesellschaft, das ist die auf Wohlfahrtsförderung gerichtete
menschliche Thätigkeit (S. 532). Wollendürfen und Wohlfahrt, Verfassung
und Verwaltung sind kollidierende, widerstreitende Elemente, denn nur bei