— 230 —
oder der Gesellschaft verlange es. So wird der Inhalt des
Gesetzes eingewöhnt. Ist dies geschehen, ist die Grenze,
welche der Machthaber zu scheuen hat, verschoben, so ist
ihm wieder die Möglichkeit gegeben zu neuem Gesetz und neuer
ihm günstiger Rechtschaffung. So wie Marx vom Kapitalisten
sagt, er strebe nach Mehrwert, so können wir als Regel aus-
sprechen: Wenn durch Gesetz Recht geschaffen wird, um dann
neuerlich Gesetz zu geben, so ist der Zweck die Bildung von
„Vorrecht*.
Der dialektischen Wendung als solcher ist selbstverständlich
nicht das Gewicht beizumessen, sie soll nur veranschaulichen.
Wichtig ist, dass sie die Wahrheit zeig. Wenn man die Ent-
wicklung des Rechts in Europa seit Beginn des Mittelalters, seit
den fränkischen Königsgesetzen verfolgt, so findet man, dass sie
durchaus in der angegebenen Weise vor sich geht. Dem Volke
wird durch Gesetz oder Gesetzesfiktion (lex Liothari) ein Stück
alten Rechts genommen; dann wird zugewartet, bis es sich an
die neue Ordnung gewöhnt hat, bis sein Widerwille wenigstens
als Thatkraft geschwunden ist, und ein neuer Schritt auf dem Wege
gemacht, ein neues Stück Rechtes gekürzt, neue Vorrechte für die
Herren geschaffen. So ist die ganze feudale Ordnung entstanden,
deren Beseitigung man derzeit als Verletzung wohl erworbener
Rechte hinzustellen versucht. So ging es „und geht es noch heute“.
Zur Charakteristik, wie die Parteiherrschaft im parlamen-
tarischen System wirkt, wollen wir vier Aktionen, vier Erscheinungs-
oder Thätigkeitsgruppen, betrachten, in denen sich das System
vorzugsweise abspiegelt. Die erste Aktion betrifit die Wahl.
Wir sehen von den Mitgliedern des Parlaments ab, welche als
solche geboren oder vom Fürsten ernannt werden. Sie gehören
ihrer Entstehung nach einem anderen System an. Die parlamen-
tarischen Mitglieder werden gewählt. Wir fassen die Wahl-
ordnung und den Wahlakt ins Auge. Zunächst die Wahl-
ordnung. Sie ist die zeugende Kraft des Systems. S9ie