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Majoritätsdespotismus, gemässigt durch Obstruktion, bezeichnen.
Denn Despot kann nicht bloss ein Fürst sein. Es giebt ebenso
Kabinettsjustiz der Mehrheit, auch Kabinettsjustiz der obersten
Behörde. Wer in einem Falle den letzten Spruch zu fällen
hat und an Stelle unbefangenen Urteils ein sic volo setzt, macht
sich ihrer schuldig.
Die Obstruktion ist die parlamentarische Revolte. Alle Er-
klärung, alle Verteidigung und Verurteilung derselben liegt in
diesem Wort. Es giebt zweifellos auch ein Notrecht der Revolution
— wie es SCHILLER zeichnet — „wenn der Gedrückte nirgends
Recht kann finden“. Das Notrecht der Obstruktion hat geringere
Folgen und deshalb auch geringere Vorbedingungen. Aber sie
bleibt ein Notrecht, nur ein Angriff auf Existenzbedingungen
kann sie begründen.
Im allgemeinen herrscht die Majoritätspartei und die Gesetze
tragen ihr Gepräge. Die Gesetzmache unter dem parlamenta-
rischen System ist berüchtigt. Alle Parteien haben nur das
Bedürfnis, ihre Parteiwünsche erfüllt zu sehen; was sonst im
Gesetz steht, ist ihnen ziemlich gleichgültig. Die Form des Ge-
setzes wird daher vernachlässigt; wer Klarheit oder gar Schön-
heit des Textes in die Debatte zieht, gilt als Verschlepper und
Störefried. Oft werden nur allgemeine Begehren als sogenannte
Grundsätze im Gesetz ausgesprochen, sein sonstiger Inhalt wird
auf den Weg der Verordnung gewiesen (Ermächtigungsgesetze).
Es kommen auffallende Fehler im Ausdruck vor, selbst Druck-
fehler, die den Sinn des Gesetzes verfälschen, dennoch aber beide
Häuser des Parlaments durchlaufen und nicht erkannt werden°.
° Ein auch aus anderem Grunde bemerkenswertes Beispiel fand ich
in dem österreichischen Gesetz vom 1. Nov. 1862 hetreffend das Promessen-
geschäft. Dort heisst esim $ lc: „Die Veräusserung der Gewinnsthoffnung muss
mit der Verpflichtung geschehen, im Falle der Verwirklichung der Gewinnst-
hoffnung das Los gegen eine vereinbarte Vergütung zu übergeben, oder den
entfallenden Gewinn, wenn in der bedungenen Zeit das Los nicht begehrt wird,
nach Abzug der vereinbarten Vergütung und Erlag der Kosten für den