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treffen wir das Grundübel, an dem das System leidet. Jede
Macht, die über das Volk herrschen will, muss dessen Wollen
zwingen. Die Macht des Fürsten stützt sich zunächst auf körper-
lichen Zwang, auf Polizei und Heer, die Macht der Kirche auf
metaphysischen, indem es ihre Befehle als die einer allmächtigen
belohnenden und strafenden Gottheit aufstellt. Solche Mittel
stehen den Parlamentariern nicht zu Gebote. Sie sind vom
Volke gewählt, von seinem Wollen abhängig. Ihre Herrschaft
entsteht und erhält sich nur durch dieses. Soll das Volk ihnen
trotzdem dienen, so muss es wollen, was ihnen genehm ist.
Das selbständige Denken dessen, der beherrscht werden soll, ist
dem, der herrschen will, stets unleidlich. Auch Fürsten und
Priester wenden Mittel an, um das Volk nicht selbst denken zu
lassen: als äusseres einen beschränkten Unterricht, als inneres
Autoritätsglauben und Gehorsamsgefühl. (Eine prächtige Satire
hierauf schreibt LynkEus, Phantasien eines Realisten: „Warum
freuen sie sich eigentlich“.) Parlamentarier können zum letztern
nicht greifen. Sie kommen aus dem Volk, sie sind ihren Wählern
gleichgestellt und können ihnen nicht imponieren. Sie müssen
daher ein anderes Mittel suchen, und finden es in der Fälschung
des Volkswillens. Ich meine damit nicht die grobe physische
Fälschung, obwohl auch sie bei einzelnen Anlässen angewendet
wird, sondern die Verfälschung des Denkens, die Verführung
durch Lüge, Leidenschaft und Selbstsucht.
Das Mittel wird auch neben der metaphysischen Drohung von
der Kirche gebraucht und hat im Jesuitismus seinen sprich-
wörtlichen Ausdruck gefunden; ebenso von der Diplomatie im
Verkehr der Staaten und anderen Ortes, wo der Abhängige
herrschen will. Es lässt das Wollen bestehen und verdirbt es
im Gehalt.
Die Vorgänge beim Wahlakt und bei der Aemterbesetzung
erscheinen, von diesem allgemeinen Gesichtspunkt aus, nur als
einzelne Beispiele. Der Parlamentarismus erzeugt ein System