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nicht nur sehr gründlich und in alle Fragen eindringend, sondern auch von
vorzüglicher Klarheit. Nach einer einleitenden Erörterung über die Staats-
gewalt und ihre Funktionen, in welcher er die Theorie von der Teilung der
Gewalten kritisiert und die Unterscheidung von Gesetzgebung, Verwaltung
und Rechtsprechung lediglich nach den dazu berufenen Organen in ihrer
wissenschaftlichen und praktischen Unhaltbarkeit darlegt, erbringt er den
Nachweis, dass auch im französischen Recht der in der Natur der Sache
begründete Gegensatz von formellen und materiellen Gesetzen besteht und
zur praktischen Anerkennung gelangt ist und dass die Verordnungen in die
zwei grossen Klassen der Rechtsverordnungen und Verwaltungsverordnungen
zerfallen. Die ersteren sind Gesetze zweiter Ordnung, „Kleingesetze“, die
letzteren Anweisungen, welche nur innerhalb der Verwaltungsbehörden selbst
ihre Rechtswirkungen äussern, wenngleich mittelbar auch das Publikum
von ihnen betroffen wird. Von diesen in sehr ausführlichen Erörterungen
begründeten Grundanschauungen aus geht er auf das Detail der von ihm
behandelten Lehre ein, in erster Reihe natürlich immer mit Rücksicht auf
das französische Recht. In allen seinen Ausführungen kann ich ihm freilich
nicht beistimmen; so namentlich darin, dass aus der Stellung des Chefs der
Regierung und seiner Aufgabe, die Verwaltung zu leiten und die Staats-
interessen zu fördern, sich auch ohne gesetzliche Ermächtigung die Befugnis
zum Erlass von Rechtsverordnungen ergiebt und dass er sowohl secundum
und intra legem, als auch praeter legem diese Befugnis ausüben kann,
sofern nicht eine Materie ihm durch Verfassung und Gesetz ausdrücklich
entzogen und dem Bereich der Gesetzgebung vorbehalten ist. Wenn der
Verf. sich hier namentlich dagegen erklärt, dass die Ermächtigung keine
„spezielle* zu sein braucht (S. 234f.), so kämpft er gegen ein Phantom; sie
kann auch eine generelle sein, wie z. B. im Art. 45 Preuss. Verf.; aber
es muss eine positive Ermächtigung sein, nicht bloss das Nichtvorhanden-
sein eines Verbots. Das richterliche Prüfungsrecht erkennt der Verf. nicht
nur hinsichtlich der Gültigkeit der Verordnungen, sondern auch hinsichtlich
der Verfassungsmässigkeit der formellen Gesetze an und er wiederholt hier
alte und meines Erachtens längst widerlegte Betrachtungen. Die Be-
schränkung dieses Prüfungsrechts auf die Gerichte führt zu dem Dilemma,
dass ein und dasselbe Gesetz für die Gerichte ungültig, für die Verwaltungs-
behörden verbindlich sein kann, dass es in dem Bezirk eines Gerichts als
gültig, in dem Bezirk eines anderen Gerichts als ungültig angesehen wird und
dass ein Gericht in Widerspruch treten kann mit der übereinstimmenden
Ansicht aller an der Gesetzgebung beteiligten Faktoren. Wenn der Verf.
gegen die Ansicht, dass die kaiserliche Ausfertigung der Reichsgesetze ein
Urteil enthalte, welches das verfassungsmässige Zustandekommen des Gesetzes
konstatiert, den Einwand erhebt, dass ein Urteil nicht vorliege, weil es an
einem Streit fehlt, so übersieht er, dass es auch andere mit Rechtswirkung
ausgestattete Urteile giebt als Prozessentscheidungen., Die Anerkennung der