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Der III. Civilsenat hat in dem Urteil vom 26. März 1901
(Bd. 48 S. 84ff.) sich diesen Ausführungen angeschlossen!.
Diese Entscheidungen des Reichsgerichts haben eine Trag-
weite, welche über die im kronkreten Falle zu entscheidende
Frage nach der rechtlichen Bedeutung der „Grundsätze“ weit
hinausgeht; sie betreffen einen wichtigen Punkt des Verordnungs-
rechts und das Wesen der Verkündigung, und da sie mit den
in der Theorie des deutschen Staatsrechts herrschenden An-
sichten in Widerspruch stehen, so geben sie zu einer Nach-
prüfung dieser Ansichten Veranlassung.
I.
Die Frage, ob die Vorschrift des Art. 2 R.-V. über die
Verkündigung der Reichsgesetze sich nur auf formelle Reichs-
gesetze oder auch auf Rechtsvorschriften ohne Gesetzesform be-
zieht, ist streitig. In dem Wortlaut des Art. 2 sind die Rechts-
verordnungen nicht ausdrücklich erwähnt; das Reichsgericht be-
findet sich also nicht im Widerspruch mit diesem Wortlaut,
wenn es den Art. 2 auf formelle Reichsgesetze beschränkt.
Andererseits ist für die Auslegung des Art. 2 in Betracht zu
ziehen, dass er unmittelbar vorher den Satz enthält, dass
Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen, und da es un-
zweifelhaft und unbestritten ist, dass hierdurch allgemein der
Vorrang des Reichsrechts vor dem Landesrecht, nicht bloss
der Vorrang der formellen Reichsgesetze vor den formellen
Landesgesetzen festgestellt wird, so ist die vom Reichsgericht
gebilligte Interpretation nicht für den ganzen Art. 2 durchführ-
bar, sondern legt dem Worte „Reichsgesetz“ in einer und der-
selben Zeile der Reichsverfassung zwei verschiedene Bedeutungen
bei, was gewiss keine empfehlenswerte Methode der Gesetzes-
I Aehnlich schon ein Urteil des Reichsoberhandelsgerichts vom 2. Juni
1876. Entscheidungen Bd. 21 S. 62.
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