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auslegung ist?®. Es ist ferner zweifellos, dass Verordnungen des
Bundesrats und der Reichsbehörden in rechtswirksamer Weise
im Reichsgesetzblatt verkündet werden. Wenn aber Art. 2
R.-V. nur für die formellen Reichsgesetze bestimmt, dass sie
ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung vermittelst des
Reichsgesetzblattes erhalten, so fehlt es an einer reichsgesetz-
lichen Bestimmung, welche auch die Verkündigung von Verord-
nungen vermittelst des Reichsgesetzblaties mit verbindlicher Kraft
für das ganze Bundesgebiet ausstattet. Man muss also unter
„Reichsgesetzen* auch die Reichsverordnungen mit verstehen,
insofern sie im Reichsgesetzblatt mit rechtsverbindlicher Kraft
verkündet werden können, und gleichzeitig die Rechtsverord-
nungen den formellen Gesetzen entgegenstellen, indem sie nicht
im Reichsgesetzblatt verkündet werden müssen. Auch in dieser
Hinsicht erweist sich diese Auslegung daher undurchführbar.
Doch wenn man auch annimmt, dass die vom Reichsgericht
gebilligte Interpretation des Art. 2 richtig sei, so würde dadurch
nur festgestellt werden, dass die Reichsverfassung, welche an
2 SeypEL, Kommentar zur Reichsverfassung (2. Aufl. S. 45), behauptet,
um diesen Interpretationsfehler zu vermeiden, dass der Art. 2 auch in seinem
ersten Satze gleichfalls nur an formelle Gesetze denke, weil zur Zeit der
Feststellung der Norddeutschen Bundesverfassung und der Reichsverfassung
die Unterscheidung materieller und formeller Gesetze, „der natürlich sachlich
auch für die Reichsverfassung vorhanden ist, nichts weniger als wissenschaft-
liches Gemeingut gewesen ist“. Allein man hat den Ausdruck „Gesetz“
immer sowohl in der wissenschaftlichen Litteratur als in der vulgären
Sprache, sowie in der Gesetzgebung selbst in dem weiteren Siun von Rechts-
vorschrift gebraucht und zwar gerade weil man sich des Gegensatzes von
Gesetzesform und Rechtsinhalt nicht bewusst war. Der Gesamtinhalt des
Art. 2 betrifft nicht die Form der Gesetze, sondern das Verhältnis des
Reichsrechts zum Landesrecht und stellt im Gegensatz zu den Be-
schlüssen des ehemaligen Bundestages den Grundsatz auf: „Reichs-
recht bricht Landesrecht“. Würde man im Art. 2 der R.-V. das Wort
„Gesetz“ im formellen Sinne nehmen, so würden die Reichsgesetze nur den
formellen Landesgesetzen, aber nicht den Verordnungen der Einzelstaaten vor-
gehen, was widersinnigist. Bedeutet aber das Wort Landesgesetz das Landes-
recht, so muss auch das Wort Reichsgesetz das Reichsrecht bedeuten.