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ist verpflichtet, sein Thun und Lassen mit der bestehenden Rechts-
ordnung im Einklang zu erhalten. Dass man bei der Beurteilung
der subjektiven Schuld und der Verhängung oder Abmessung
einer Strafe auf Unkenntnis eines Gesetzes Rücksicht nehmen
kann, steht der Geltung des Prinzips, ohne welche es überhaupt
keine wirksame Rechtsordnung geben würde, nicht entgegen.
Es kommt auch nicht darauf an, ob eine Rechtsvorschrift selten
oder häufig zur Anwendung kommt, und ob sie ihrem Inhalte
nach im wesentlichen das Verhalten der Behörden oder das der
Privatpersonen regelt. Jede Rechtsvorschrift bildet einen Teil
der Gesamtrechtsordnung und erfordert Beobachtung von jedem,
der aus irgend einem Grunde von ihr betroffen wird; so wie sie
andererseits auch ihm zu gute kommt. Jede Rechtsvorschrift muss
daher kundbar gemacht werden; ihre Kundbarkeit ist eine Existenz-
bedingung. Es genügt insbesondere nicht, dass sie nur den Be-
hörden, welche sie anzuwenden haben, zur Nachachtung mitgeteilt
oder erkennbar gemacht wird, was für Dienstvorschriften (Ver-
waltungsverordnungen) allerdings ausreicht.
Um die Kundbarkeit zu erreichen, giebt es zwei Methoden,
welche man als die materielle und formelle bezeichnet‘. Die eine
ist darauf gerichtet, dass die wirkliche Kenntnis den einzelnen
Individuen vermittelt wird, z. B. durch Verlesen der Vorschrift
bei Hörnerklang oder Trommelschall in den Strassen der ein-
zelnen Ortschaften, Verlesen von oder vor der Kanzel, öffent-
lichen Anschlag am Gemeindehause oder an den Strassenecken
und dergleichen®. Die andere Art beruht auf der Sanktion eines
Rechtssatzes, welcher die Fiktion juris et de jure begründet,
* Vgl. Jos. Lukas, Ueber die Gesetzespublikation, Graz 1903 S. 7£f.
8 Vgl. über die älteren Formen der Verkündigung in Preussen HEype-
MANN, Einleitung in das System des Preuss. Civilrechts, 2. Aufl. 1861 S. 82,
v. Rönne, Staatsrecht der Preuss. Monarchie, 3. Aufl. I, 1 S.200. Vgl. auch
Koc# in der Juristischen Zeitung für die Kgl. Preuss. Staaten, Jahrgang
1833 S. 252.