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III.
Das formelle Verkündigungsprinzip hat nicht nur Bedeutung
für die sichere Erkenntnis, welche Rechtsvorschriften erlassen
sind, sondern auch dafür, dass keine anderen Rechtsvor-
schriften (vom Gewohnheitsrecht selbstverständlich abgesehen)
bestehen als die ordnungsmässig verkündigten. Hier tritt der
Zusammenhang des formellen Verkündigungsprinzips mit dem
Grundsatz ignorantia juris nocet besonders scharf hervor. Jeder
Unterthan muss sich mit absoluter Sicherheit darüber Gewissheit
verschaffen können, welche Rechtsvorschriften für eine Frage, die
für ihn im einzelnen Falle von Wichtigkeit ist, bestehen. Dazu
ist erforderlich, dass Rechtsvorschriften in keiner anderen
Weise verkündet werden als in der gesetzmässigen. Nur diese
zu kennen, kann der Unterthan verpflichtet sein.
Preussisches Allgemeines Landrecht Einleitung 8 12:
„Es ist aber auch ein jeder Einwohner des Staats sich um die
Gesetze, welche ihn oder sein Gewerbe und seine Handlungen
betreffen, genau zu erkundigen gehalten; und es kann sich nie-
mand mit der Unwissenheit eines gehörig publizierten Ge-
setzes entschuldigen.“
Der Grundsatz ignorantia juris nocet ist nur in dieser Be-
schränkung erträglich und durchführbar. Der Unterthan kann
sein Verhalten in rechtlich erheblichen Angelegenheiten nur nach
denjenigen Rechtsvorschriften einrichten, die ihm als solche er-
kennbar sind!!, und es müsste alle Rechtssicherheit zerstören,
wenn seine Rechtsverhältnisse, wenn sie streitig werden, nach
Normen beurteilt werden, deren Existenz für ihn eine Ueber-
!! Der Gegensatz des materiellen und des formellen Verkündigungs-
prinzips ist in dieser Hinsicht von Bedeutung. Bei dem materiellen Prinzip
wird die Kenntnis des Gesetzes dem einzelnen soviel wie möglich entgegen-
gebracht und von ihm nur ein rezeptives Verhalten erfordert; das formelle
Prinzip nötigt den einzelnen zu einem positiven Thun, um sich die Kenntnis
des bestehenden Rechts zu verschaffen. Das Gesetz kommt nicht mehr zu
ihm, sondern er muss das Gesetz aufsuchen.