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Aber der Bundesstaat ist ein politischer Begriff; für diesen
genügt es, dass den Einzelstaaten thatsächlich Dasein und
staatliche Wirksamkeit gewährleistet sei. Und das ist hier ge-
währleistet durch die Natur des Souveräns selbst, dem sie unter-
stehen. Hinter dem, was wir vorhin die republikanische Etikette
nannten, steckt eine sehr bedeutsame mächtige Sache. Wo ein
Volk von echter republikanischer Gesinnung erfüllt ist, da be-
steht auch bei ihm ein ungemein zartes Gefühl für die Freiheit
der Staatsgenossen, für ihr Recht, ihre Angelegenheiten selbst
zu besorgen, für sich allein oder in grösseren Gemeinschaften,
welche sie wieder bilden mögen. Namentlich geschichtlich her-
gebrachten eingewurzelten Gemeinschaften, wie die Unionsstaaten
zumeist sind, kommt das zu gute. TREITSCHKE hat die Wichtig-
keit dieser Gesinnung sehr gut hervorgehoben; er nennt sie das
„eidgenössische Rechtsgefühl“ und ist der Meinung, dass ohne
dieses ein Bundesstaat überhaupt nicht bestehen könne °®?,
Diese innere Gebundenheit der Unionsgewalt findet ihren
Ausdruck in einer juristischen Formel, die auch wieder ganz und
gar nur dem republikanischen Ideenkreise angehört. Der Herr
über alles, das Gesamtvolk der Union, erscheint nur ausnahms-
weise in seiner ganzen Herrlichkeit auf dem Plan, dann nament-
lich, wenn es gilt, grosse Entscheidungen zu treffen und eine
neue Ordnung der Dinge durchzuführen. Er ist, wie die Fran-
zosen sagen, das pouvoir constituant, das ordentlicherweise die
pouvoirs constitues machen lässt unter seiner dabei vorbehaltenen,
auf die Wahlen beschränkten Mitwirkung. Diese bestellten Ge-
walten sind die in der Unionsverfassung bezeichneten. Es gilt
aber ebenso als der Wille des Unionsvolkes, dass die geordneten
Gewalten der Staaten der Bundesgewalt gegenüber der Haupt-
unterscheiden sollte, dass der souveräne Wille dieses neu abgegrenzten
Gesamtvolkes die Sklaverei zuliess.
23 TREITSCHKE, Bundesstaat und Einheitsstaat, hist. und pol. Aufsätze
Bd. II S. 157 159 169 233.