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Lehrmeister der Staatsphilosophie erscheinen soll. Eine seltsame
Transsubstantiation.
Dann aber ging es Schlag auf Schlag: in drei Jahren drei
immer umfangreichere allgemeine Staatslehren von REHM, von
JELLINEK und von RICHARD SCHMIDT, welch letzterer uns in
jedem neuen Jahr mit einem neuen Bande beschenkt. Zu diesem
reichen Bestande ist nunmehr noch eine neue Erscheinung von
ganz besonderer Art getreten: ANTON MENGERs „Neue Staats-
lehre“ (Jena 1903, Gustav Fischer).
In ihrer Blütezeit stand die allgemeine Staatslehre in eng-
stem Zusammenhange mit den grossen Strömungen des politi-
schen Lebens, den wechselnden Phasen der staatlichen Entwick-
lung. Der eudämonistische Polizeistaat wie die grosse Revolution,
die Aera der Restauration und des sich durchsetzenden Konsti-
tutionalismus treten uns aus der Litteraturgeschichte derallgemeinen
Staatslehre ebenso deutlich wie aus der politischen Geschichte
entgegen; und jedenfalls die wichtigsten Systeme jener Disziplin
hatten zugleich die Bedeutung von Parteidoktrinen. Einer liberal-
konstitutionellen Gruppe mit radikaleren und gemässigteren Nu-
ancen stand eine reaktionär absolutistische von mehr feudaler
oder mehr bureaukratischer Färbung gegenüber; und nur ganz
ausnahmsweise reiht sich einmal eine wissenschaftliche Theorie
nicht zwanglos in eine der beiden politischen Gruppen ein.
So ist es denn auch kein Zufall, dass die grosse Brachzeit
in der deutschen Litteratur der allgemeinen Staatslehre ziemlich
genau mit der eigenartigen Zersetzung unseres innerpolitischen
Lebens zusammenfällt. Will man denn durchaus mit Rosın den
Namen Bismarck in die Geschichte unserer Wissenschaft bringen,
so kann dies nur in eminent negativem Sinne geschehen; die
Aera seiner materiellen und geistigen Herrschaft bezeichnet zu-
gleich das grosse Interregnum in der allgemeinen Staatslehre; der
Herrschaft seiner „Realpolitik“ entspricht die Herrschaft des
staatsrechtlichen Positivismus.