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Welche Ansicht übrigens in Beziehung auf die Frage, ob
ausländische Seeleute ausgeliefert werden dürften, wenn ein Ver-
trag nicht vorhanden sei, richtig sein möge, so könne doch, da
ein Vertrag mit Russland vorliege, nur dieser Vertrag für die
Rechte der russischen Behörden auf Auslieferung des A. ent-
scheidend sein. Wenn die Mächte selbst durch einen Vertrag
die Bedingungen für die Auslieferung von Deserteuren unter-
einander festgesetzt hätten, so dürfe man nicht auf Grund der
comitas gentium diese Bedingungen erweitern und die Ausliefe-
rung auch in anderen als den vorgesehenen Fällen bewilligen.
Expressio unius est exclusio alterius. Der Vertrag, welcher von
den Mächten zum gegenseitigen Schutze geschlossen sei, müsse
im Geiste der uberrima fides und in einer Weise ausgelegt
werden, die geeignet sei, den augenscheinlichen Zweck zu ver-
wirklichen. Da die völkerrechtlichen Verträge nicht bloss zur
Vermeidung von Krieg und Streitigkeiten, sondern zugleich zur
Förderung eines freundschaftlichen Verhältnisses zwischen den kon-
trahierenden Mächten geschlossen würden, so müssten sie in einer
möglichst weitgehenden und liberalen Weise interpretiert werden,
soweit dieses ohne Verletzung individueller Rechte oder der-
jenigen Grundsätze bezüglich der persönlichen Freiheit, die die
Grundlage der nordamerikanischen Jurisprudenz bilden, geschehen
könne. Völkerrechtliche Verträge seien nach denselben Regeln
wie Privatverträge gemäss der Absicht der kontrahierenden Teile
auszulegen.
Nun werde geltend gemacht, dass die Voraussetzungen des
Art. IX des Vertrages mit Russland aus drei Gründen nicht
vorhanden seien: 1. Weil der Variag kein Kriegsschiff gewesen,
2. weil A. nicht von einem solchen Schiffe desertiert sei und
3. weil die Zugehörigkeit des A. zu der Mannschaft des Schiffes
nicht durch das Schiffsregister, die Musterrolle oder andere
öffentliche Dokumente nachgewiesen sei. Was den ersten Punkt
anlange, so habe sich der Variag zur Zeit der Ankunft des A. in