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Der Verf. hat die Aufgabe, welche er sich gesetzt hat, sehr gut gelöst und
die Staatslehre GÖnnERs anschaulich und vollständig dargestellt; da diese
aber sogleich durch die Auflösung des Reichs und die Ausbildung der kon-
stitutionellen Verfassung der deutschen souveränen Einzelstaaten ihre prak-
tische und theoretische Bedeutung völlig einbüsste, so ist der Nutzen ihrer
Reproduktion nicht recht ersichtlich und man fühlt sich versucht, den von
dem Verf. darauf verwendeten Fleiss als verlorene Liebesmühe anzusehen.
Laband,
Dr. Hermann Hesse, Giebt es eine unmittelbare Reichsangehörig-
keit? Berlin 1903. 50 8. gr. 8%. M. 1.50.
Die Abhandlung ist eine (Leipziger) Doktordissertation mittlerer Art
und Güte. Der Verf. definiert die Staatsangehörigkeit als ein Rechts-
verhältnis, welches die Rechte und Pflichten des Einzelnen gegenüber
seinem Heimatsstaate regelt; und er begründet die Möglichkeit, dass eine
physische Person mehreren Staaten gleichzeitig angehört, damit, dass zwar
das Verhältnis der Angehörigkeit zu jedem einzelnen Staate die ganze Per-
sönlichkeit ergreift, eine Teilung der Rechte und Pflichten aber, welche
aus dem Zustande der Staatsangehörigkeit folgen, den mehreren Staaten
gegenüber eintrete (S. 18). Die unmittelbare Reichsangehörigkeit findet
er durch Art. 3 R.-V. begründet. Die massgebende und allein entschei-
dende Frage aber, ob durch den Art. 3 ein „Rechtsverhältnis“ unmittelbar
zwischen dem Reich und den Einzelnen begründet wird, untersucht er nicht.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass sämtliche im Art. 3 aufgeführten Wir-
kungen des Indigenats auch unter Staaten, die völlig unabhängig von einander
sind, durch Staatsverträge begründet werden können und zum grössten Teil be-
gründet worden sind, wie die Niederlassungs-, Rechtshülfe-, Handels- und viele
andere Verträge unwiderleglich beweisen, und doch wird niemand behaupten,
dass dadurch eine gleichzeitige Staatsangehörigkeit zu diesen Vertragsstaaten
zur Entstehung komme. Der Art. 3 legt lediglich den Bundesstaaten Pflich-
ten und Beschränkungen auf. Dass durch das Reichsgesetz vom 1. Juni 1870
in formeller Hinsicht die Staatsangehörigkeit zur Grundlage und Voraus-
setzung der Reichsangehörigkeit gemacht worden ist und dass die materielle
Selbständigkeit des Begriffs der Reichsangehörigkeit nicht zum Ausdruck
gekommen ist, kann der Verf. nicht bestreiten; er stellt als das Ergebnis
seiner Erörterungen das bescheidene Ergebnis hin, dass die Reichsangehörig-
keit auch ohne den Besitz der Staatsangehörigkeit in materieller Hinsicht
denkbar ist (8.24). Das ist freilich zuzugeben; aber nicht auf die Denkbar-
keit, sondern auf die positive Gestaltung des Rechtsverhältnisses kommt es
an. Hinsichtlich des Reichslandes ist die Ansicht des Verf., dass die sog.
Landesangehörigkeit eine unmittelbare Reichsangehörigkeit ist, richtig; doch