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beschränkungen, von völkerrechtlichen Belastungen und Servituten allmählich
vollkommen aus dem Rechtssystem Belgiens ausgeschaltet worden ist.
Descamps’ Werk zeigt deutlich, dass das nationale Leben und seine Bedürfnis-
befriedigung allein die Richtungslinie auch in jenen Fragen abgab, die das alte
„Europäische Konzert“ mit übergeordneter Macht und unter Ueberschätzung
der Leistungskraft völkerrechtlicher Institutionen dem jungen Staatswesen
aufzuzwingen sich befugt erachtet hat. Meminisse iuvat! Wer vermag
noch den Spuren der ehemaligen europäischen Kontrolle zu folgen über die
militärischen Verteidigungsmittel Belgiens, seiner Festungen etc., ohne die
zahlreichen Akten und Verhandlungen so der Londoner Konferenz vom Jahre
1851 ins Archiv vergilbten Materials zu schieben? Mit Recht sagt DEscamps
zu dieser vielumstrittenen Frage: „La Belgique... a ainsi modifi& tout son
systeme de defense sans consulter personne, conservant d’abord des forte-
resses designees pour @tre demolies, puis en demolissant d’autres designees
pour &tre conservees .. .“ Und genau derselbe Prozess innersten Wandels,
man möchte sagen, juristischer Substanzveränderung vollzog sich unter der
Einwirkung der völlig verschieden gearteten modernen Staatenbeziehungen
in Ansehung der „garantierten obligatorischen Neutralität“ des belgischen
Staates nach innen wie nach aussen. Was in den ersten Jahren des selb-
ständigen staatlichen Bestandes Belgiens aus Gründen der juristischen Kautel
dem jungen Gemeinwesen als völkerrechtliche Pflicht, als Zwangsbeschränkung
seiner freien Autonomie auferlegt worden war, hat sich seither, wie dies
auch Descamps in überzeugender Ausführung klarlegt, zu einem wesentlichen
Bestandteil der nationalen Rechtsordnung Belgiens und seiner
Gliedstellung in der internationalen Staatengesellschaft umgebildet. Es ent-
spricht durchaus der herrschenden Lehre, wenn LaBanD iu seiner Studie über
„Die Neutralitätserklärung der drei skandinavischen Reiche“ sagt, dass die
Neutralisierung eines Staates in erster Reihe eine wesentliche Beschränkung,
eine Entziehung des Kriegsrechts sei und dass damit notwendig eine Min-
derung der völkerrechtlichen Handlungsfähigkeit verbunden sei.“ Des wich-
tigsten Hilfsmittels selbständiger aggressiver Verteidigung seiner Rechts-
ansprüche entkleidet, ist der neutralisierte Staat zur Durchsetzung seiner
Interessen auf die im friedlichen Verkehr der Staaten gegebenen Mittel
beschränkt ... Dieser Beschränkung entspricht aber anderseits ein erhöhter,
besonderer Schutz, eine völkerrechtliche Sicherung sowohl gegen kriegerische
Angriffe von seiten anderer Staaten, als auch gegen eine Verletzung ihrer
Neutralität, falls andere Staaten gegeneinander Krieg führen seitens dieser
oder eines von ihnen. Der völkerrechtlichen Wehrloserklärung entspricht
die völkerrechtliche Befriedung dieser Staaten.“ Das ist, wie gesagt, in
nuce die herrschende Lehre, es ist aber nicht überflüssig, die Frage aufzu-
werfen, ob diese Lehren nicht die nötige Reife für eine gründliche Revision
allmählich erlangt haben. Man wird sich dabei das rechtsgeschichtlich aus-
schlaggebende Moment vor Augen halten müssen, dass die Gruppierung der