Full text: Archiv für öffentliches Recht.Neunzehnter Band. (19)

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Kräfte im europäischen Staatenverband seither eine wesentlich verschiedene 
geworden ist und dass demnach auch dem vor nun mehr als 70 Jahren vor- 
genommenen Verbürgungsakte die sichere Durchsetzung fehlt. Man wird sich 
doch auch in der Sphäre des internationalen Rechts endlich dazu bequemen 
müssen, bestimmte definierbare Begriffe und juristische Attribute mit jedem 
gebräuchlichen Terminus zu verbinden, der eine Rechts- und Pflichtenord- 
nung anzeigen will, und man wird dann auch genötigt sein, auf die herkömm- 
liche Formel zu verzichten, wenn es sich in Wirklichkeit zeigt, dass ihr kein 
tatsächliches Lebensverhältnis in der internationalen Staatenwelt entspricht. 
Im schärferen Lichte dieser Betrachtungsweise zerflattert allerdings manche 
überkommene, längst inhaltslos gewordene Rechtsvorstellung. Trotz seiner 
Polemik mit ALBERT SOREL und den Anhängern des letzteren glauben wir 
aus den eingehenden, mit reichem diplomatischen Material gestützten Aus- 
führungen Descamps’ die Summe ziehen zu können, dass der Schwerpunkt 
der Neutralisierung in der durch die faktische Gestaltung des Völkerlebens 
in Krieg und Frieden unabweislich gewordenen Selbstausschaltung der 
kleineren und mittleren Staaten liegt, aus dem System der modernen kriege- 
rischen Lösung von Interessengegensätzen. Es hat sich hier eben aus 
nationalen, wirtschaftlichen, dynamischen Gründen heraus eine Evolution voll- 
zogen, die ein altes Rechtsgebilde mit neuem Inhalte errüllt hat. 
Es ist darum unrichtig, weil unhistorisch, wenn von schweizerischer 
Seite immer noch ein spezifischer Unterschied zwischen der Neutralität der 
Eidgenossenschaft und der Belgiens hervorgehoben und betont wird. Man 
sucht von jener Seite das Verhältnis in die folgende Formel zu bringen: 
Die Neutralität der Schweiz ist ein echtes schweizerisches staatsrechtliches 
Gebilde, aus dem ureigenen Volkscharakter herausgeboren und während der 
Jahrhunderte ihres Bestehens zum festen und ehernen Bestand der schweize- 
rischen Eidgenossenschaft geworden. Am 20. Nov. 1815 ist die Anerken- 
nung der Mächte erfolgt, die sich in die Formel kleidete: „. .. . les 
puissances signataires de la Declaration de Vienne du 20 Mars font par le 
present Acte une reconnaissance formelle et authentique de 1a 
neutralit& perpetuelle de la Suisse, et elles lui garantissent l’integrite 
et linviolabilit€ de son territoire .. .“ Das sei aber nicht die Garantie, 
nicht die Schaffung der Neutralität, sondern die Anerkennung eines 
Zustandes, der bereits bestanden hat. Von einem „Geschenk der Mächte“ 
sei also keine Rede, die Neutralität ist vollständig schweizerischen Ursprungs 
und Sache der Schweiz. Sie kann mit ihr machen was sie will, sie abschaffen 
oder bestehen lassen, so oder anders in die Praxis umsetzen, irgend eine 
dritte Macht hat kein Recht der Beeinflussung oder Einmischung. 
Ganz anders, behaupten Schweizer Autoren, tritt uns die Neutralität 
Belgiens entgegen. Sie ist das Werk des Wiener Kongresses, der im Jahre 
1815 das Königreich der Niederlande schuf, also Holland und Belgien zu- 
sammenschweisste und Belgien die Neutralität aufzwängte, um zwischen
	        
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