— 285 —
Frankreich und Deutschland eine Barriere aufzurichten und Belgien selbst
zum Pufferstaat zu machen. Da hätten wir eine völkerrechtliche Servitut,
während die Neutralität der Schweiz ein Stück nationaler Selbständigkeit
und Unabhängigkeit sei.
Offenbar wird bei dieser Argumentation aus einem richtigen Vordersatz
eine falsche Schlussfolgerung gezogen und Drscamps’ gehaltvolles Werk wird
erfolgreich dazu beitragen, dass die völkerrechtliche Dogmatik in eine gründ-
liche Revision der Lehre von der Neutralität eintreten wird. Wenn
unsere neuere Rechtswissenschaft den Begriff der Souveränetät zu begriff-
licher Klarheit und juristischer Schärfe erhoben bat, so gilt es, fortan die
vertragsmässige oder freiwillige Selbstausschaltung der kleineren Kultur-
staaten Europas aus dem System der Kriegsaktion unter einem andern Ge-
sichtswinkel der Theorie und Praxis zu betrachten als unter dem der ver-
alteten Rechtsfigur der völkerrechtlichen Servitut. Den wirksamsten
Anstoss zu diesem Fortschritt der Völkerrechtswissenschaft gegeben zu haben,
bleibt das dauernder Anerkennung würdige Verdienst des DescAamPpsschen
lehrreichen Buches. Stoerk.
Ernest Nys, Le Droit international. Les Principes, les Theories,
les Faits. Tome I. Bruxelles Alfr. Castaigne, Paris Alb. Fontemoing,
1904. 546 S.
Entgegen bewährter Uebung, fachwissenschaftliche Werke erst nach
ihrem Abschluss einer kritischen Würdigung zu unterziehen, glaube ich im
vorliegenden Falle schon bei einem Teilabschnitt einer grossangelegten Arbeit
die Aufmerksamkeit der Berufsgenossen in weiteren Kreisen auf ein in An-
lage und Ausführung völlig vom Kanon der landläufigen Völkerrechtslehr-
und Handbücher abweichendes wissenschaftliches Werk hinlenken zu sollen.
Wie sich in der Person des gelehrten Verf. bei aller vorwiegenden fran-
zösischen künstlerischen Schaffenskraft auch Züge deutscher wissenschaft-
licher Arbeitsmethode harmonisch verbinden, so zeigt auch sein vorliegendes
Buch nach allen Richtungen hin eine erfolgversprechende Mischung der
Vorzüge deutscher und französischer Eigenart: gründliche Ermittlung und
Verbindung des positiven Stoffes in künstlerischer Formgebung. — Von An-
fang an sei der Umstand fast als selbstverständlich betont, dass sich das
Werk Nys’ nicht eben leicht liest. Er treibt die Kunst der Konzentrierung
und der Verdichtung rechts- und kulturgeschichtlicher Entwicklungsreihen
bis zu einem Grade virtuoser Ueberbrückung von Zwischengliedern und
sachkundiger Verwertung des sous-entendu, dass nur bei williger Empfäng-
lichkeit des Lesers dieser die weite Wanderung mitmachen kann, zu der
ihm Nys die sichere Fübrerhand bietet.