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sich statt einer Prütung desselben mit der in der französischen Literatur üblichen
Unterscheidung des pouvoir constitutif vom pouvoir legislatif begnügt. Der
Verf. hat aber dabei seinen ganz besonderen Zweck. Denn aus dem Satz,
dass die Verfassung den Staat und den Gesetzgeber schaffe und mit einer
bestimmten Zuständigkeit ausstatte, leitet er die rechtliche Möglichkeit ab,
„dass die Befugnisse des Staates von vornherein, gewissermassen kongenital,
beschränkt seien; und dass die gleiche Autorität(?), welche die rechtliche
“Gestalt des Staates überhaupt bestimmt und ihm seine Befugnisse zuschreibt,
ihm auch Beschränkungen auferlegen und Grenzen setzen könne in der Aus-
übung seiner Kompetenzen“. Daher sei die sog. Kompetenz-Kon:petenz, die
Selbstbestimmung des Staates hinsichtlich seiner Zuständigkeit kein formal-
Juristisches Begriffsmerkmal des Staates (S.5). Die „Verfassung“ kann also
nicht nur Staaten mit voller Kompetenz, sondern auch verkrüppelte Staaten
mit einer auf gewisse Angelegenheiten beschränkten Zuständigkeit schafften,
und es würde daher dem Begriff eines Staates nicht widersprechen, wenn er
etwa auf das Eisenbahnwesen oder auf das Unterrichtswesen beschränkt
wäre; nur politische Zweckmässigkeitsgründe würden dagegen sprechen. Ist
der Staat aber durch die Verfassung auf gewisse Angelegenheiten beschränkt,
so kann er sich nicht selbst durch seine Gesetzgebung seine Kompetenzen
erweitern. Da nun der Verf. ferner die Souveränität als ein wesentliches
Kriterium des Staates ansieht, so ergibt sich der Schluss, dass die Sou-
veränität auf gewisse Angelegenheiten beschränkt oder unter mehreren Staaten
hinsichtlich desselben Gebietes geteilt sein kann, und er gelangt auf diesem
Wege zur Waıtzschen Bundesstaatstheorie und in Anwendung auf die
Schweiz zu dem Resultat, dass sowohl der Bund als auch der Kanton, jeder
in seiner verfassungsmässigen Sphäre „souverän“ sei. Diese Festhaltung
der Kantonssouveränität ist des Pudels Kern und das Ziel, auf welches die
Deduktion des Verf. hinausläuft.
Der Verf. folgert ferner, dass wenn sich die Verfassung und Organi-
sation eines Staates ändern, sich auch die Eigenart des Staates ändert und
ein neuer Staat entsteht. „Dem steht nicht entgegen, dass dieser neue
Staat völkerrechtlich (!) als mit dem alten identisch behandelt wird, mit
andern Worten, dass er in die Rechte und Pflichten jenes nachfolgt, wie
wenn nichts vorgekommen wäre. Der Rechtssatz erhalte seine rationelle Be-
gründung aus der Identität der Individuen, welche den Staat zusammen-
setzen, was hier nicht weiter auszuführen ist. Im Verhältnis des Staats zu
den einzelnen Angehörigen gibt es aber keinen positiven Rechtssatz, dass
bei Verfassungsänderungen der neue Staat die Schulden des alten anerkennen
müsse. Wenn der Staat sich selber erneuert, auf welche formal-juristische Autori-
tät wollte sich der Rechtssatz stützen, welcher dem neuen die Lasten des
alten auferlegt?“ (S. 6). Es ist wohl kaum anzunehmen, dass diese Sätze
Zustimmung finden werden. Die Kontinuität des Staates trotz eingreifendster
Verfassungsänderungen nicht nur in völkerrechtlicher, sondern auch in staats-
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