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Zweck dieser sonderbaren Behauptungen, die Souveränität der Schweizer
Kantone resp. der deutschen Einzelstaaten gegen den Einwand zu sichern,
dass ihre Kompetenz gegen ihren Willen durch eine Abänderung der Bundes-
resp. Reichsverfassung geschmälert werden können, sie also ihre Rechte nur
durch Duldung oder Gewährung der ihnen übergeordneten Staatsgewalt be-
sitzen.
Was die Erörterungen des Verf. über den Bundesstaat anlangt, so ist
schon oben erwähnt worden, dass er die alte Wartzsche Theorie von der
Teilung der Souveränität wieder heraufbeschwört. Der Verf. unterscheidet
die Beziehungen zu andern Staaten und zu andern Rechtsgewalten auf
demselben Gebiet und über denselben Menschen und behauptet, dass ein
Staat zugleich souverän nach innen und nicht souverän nach aussen sein
könne und umgekehrt. Als Analogien führt er an: „Der bevollmächtigte
Mandatar ist gegenüber dem Schuldner des Mandanten zur Erhebung der
geschuldeten Summe befugt, nicht aber gegenüber dem Mandanten selbst;
der bona fide Erwerber einer gestohlenen Sache ist jedermann gegenüber
Eigentümer, aber dem Bestohlenen gegenüber nicht; der Beamte ist dem
Bürger gegenüber zur Ausübung seines Amtes berechtigt, aber dem Staate
gegenüber nicht; die Gemeinde ist den Gemeindemitgliedern gegenüber zur
Ausübung der Autonomie berechtigt, nicht aber dem gesetzgebenden Staate
gegenüber, da ihre Autonomie auf dem Gesetz beruht* (S. 16). So viele
Sätze, so viele Irrtümer. Der Mandatar ist, solange das Mandat überhaupt
besteht, zur Ausführung des Auftrages sowohl dem dritten als dem Mandan-
ten gegenüber befugt und hat gegen ihn die actio mandati contraria; der
bona fide Erwerber einer gestohlenen Sache ist überhaupt kein Eigentümer
derselben, gegenüber dritten sowenig wie gegenüber dem Bestohlenen, da-
gegen ist der bona fide Erwerber einer freiwillig aus Händen gegebenen
Sache Eigentümer derselben sowohl im Verhältnis zu dritten wie im Ver-
hältnis zum früheren Eigentümer. Der innerhalb seiner Zuständigkeit han-
delnde Beamte handelt sowohl dem Bürger wie dem Staate gegenüber recht-
mässig und dasselbe gilt von der Gemeinde, welche ihre Autonomie inner-
halb ihrer gesetzlichen Schranken ausübt. Der Verf. verwechselt hier
durchweg die Existenz eines Rechts mit der Möglichkeit seiner Aufhebung
oder Beschränkung. Er hält cs ferner für möglich, dass die Kompetenzen
zweier Staatswesen auf demselben Gebiet streng voneinander abgegrenzt
werden können. Ob diese Möglichkeit „denkbar“ ist, kann auf sich beruhen;
dass dies tatsächlich weder im Deutschen Reich noch in der Schweiz der
Fall ist, ergibt sich aus zahlreichen Artikeln ihrer Verfassungen und ihrer
gesamten Gesetzgebung. Wenn ein Staat auch im völkerrechtlichen Verkehr
nicht souverän ist (wie die Kantone und die deutschen Einzelstaaten), so
sei doch „unentbehrliche Bedingung eines Staates, dass seine Organe in der
Herrschaft über Land und Leute die höchsten seien“; „die innere Souveräni-
tät oder die höchste Herrschaftskompetenz im Lande sei somit eine wesent-