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vechtswissenschaft ist, das Recht, wie es tatsächlich von den massgebenden
Organen gehandhabt wird, wissenschaftlich zu bearbeiten, sofern wenigstens
nicht die Uebung sich in einem offenbaren Widerspruch mit dem Gesetzes-
wortlaut befindet. Andernfalls entbehrt die Theorie jedes praktischen Wertes
und ohne diesen, d. h. wenn sie nicht zur Klassifikation und Erkenntnis
derrechtlichen Tatsachen verwertbar ist, hat sie auch nur eine fragliche Da-
seinsberechtigung. Die Ignorierung der Praxis ist aber durchaus nicht die
Bedingung, um zu einer juristischen Theorie in vorliegendem Falle zu
kommen, Leider scheint dem Verfasser die eindringende Kritik, die FLEINER
(Zeitschr. f. schweiz. Recht n. F. XXV S. 397 fi.) an der von BURCHHARDT in
seinem Kommentar vertretenen Auffassung geübt hat, entgangen zu sein.
Der allerdings nicht massgebende französische Verfassungstext, welcher
statt von „allgemeinverbindlichen“ von Beschlüssen „d’une portee generale*
spricht, weist auf eine Konstruktion hin, welche sowohl rechtlich konse-
quent als mit der Praxis vereinbar ist. Geht man davon aus, dass man
durch das Referendum unter die Kontrolle des Volks nicht nur die mate-
riellen Gesetze stellen wollte, sondern auch diejenigen Verwaltungs- und
Regierungsakte, die eine besonders grosse, d.h. allgemeine Bedeutung haben,
so stellt man sich auf einen Standpunkt, welcher die scheinbaren Wider-
sprüche der Praxis verschwinden lässt und der ganzen Entwicklungstendenz
der schweizerischen Demokratie entspricht. Gesetz im formellen Sinne ist
danach alles, was unter die Kontrolle des Volks gestellt ist. Materiell ge-
hören zu diesem formellen Gesetzesbegriff die materielle Gesetzgebung so-
wie diejenigen von der Bundesversammlung auf dem Beschlusswege voll-
„ogenen Regierungs- und Verwaltungsakte. welche von dieser Behörde als
von allgemeiner Bedeutung erachtet werden. Die Qualifizierung solcher Be-
schlüsse ebensowie die Dringlichkeitserklärung sind politische Ermessens-
fragen, welche einer weiteren juristischen Analyse nicht zugänglich sind.
Bei einer solchen Auslegung der Verfassung verliert die Frage, welche ma-
teriellen Rechtsnormen in die Form des „Bundesgesetzes® gekleidet werden
müssen und welche in diejenigen des „ Bundesbeschlusses“ erscheinen können,
die grosse Bedeutung, welche sie für diejenigen besitzt, welche den Begriff
der Allgemeinverbindlichkeit im Sinne der materiellen Gesetzgebung ver-
stehen.
Es würde zu weit führen, in mehr Einzelheiten einzudringen. Die An-
sichten des Verfassers rufen auch in andern Punkten Widerspruch hervor
(so in Bezug auf Aufhebung von Bundesgesetzen, Ausschaltung des Refe-
rendums durch Gesetz, Prävalenz kantonaler Verordnungen, die auf Grund
von bundesrechtlicher Delegation erlassen sind, gegenüber kantonalen Ge-
setzen ‘u. a. m.); überall aber ist die Begründung sorgfältig und scharfsin-
nig, wie überhaupt die ganze Schrift klar disponiert und durchdacht ist.
Da diese eine Kernfrage des schweizerischen Staatsrechts behandelt, welche
mit zwei der wichtigsten Probleme des allgemeinen Staatsrechts, der Lehre