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Mordes. Diese aber sind bloss konstruktives Recht. Aus ihm
wird die Norm erschlossen.
Andrerseits enthält das System der Gesetzgebung manche
Normen, deren konstruktive Ausgestaltung entweder überhaupt
noch nicht in Angriff genommen wurde oder auf halbem Wege
stecken geblieben ist. Oft suppliert eine Anweisung an das freie
richterliche Ermessen, oft fehlt auch diese. Die Normen jedoch
drängen nach Verwirklichung. Darf sie wegen der Defekte der
konstruktiven Gesetzgebung frustriert werden ? Die Rechtsprechung
steht hier vor einem Dilemma. Der französische Staatsrat hat
den Ausweg dahin gefunden, dass er die Konstruktion jener Be-
stimmungen, die im Gesetze nicht zu finden waren, selbst in die
Hand nahm. Aber diese Judikatur „en dehors des textes“ ist
keine Willkür und kein „Freirecht“. Sie hat ihre festen und un-
übersteiglichen Schranken an den kodifizierten Normen. Sie
realisiert ihren Inhalt. Das ist ihr Zweck und ihre Recht-
fertigung. Die massgebende Norm wird in der gesetzlich (im
Art. 13 der Erklärung der Menschenrechte und im Art. VII der
Konstitution von 1848) festgelegten Gleichheit der öffentlichen
Lasten gefunden ””. Die Entschädigungsjudikatur schafft das zu-
gehörige konstruktive Recht. So ist sie in letzter Linie doch nur
Anwendung gesatzten Rechtes. Sie unterfängt sich niemals an
die Norm zu rühren oder sich über sie hinwegzusetzen. Das
Essentiale des Gesetzes, eben die Norm, bleibt intakt. Das Acci-
dentiale, die „part constructive“, fehlt. Es muss in irgend einer
Weise herbeigeschafit werden. Und der französische Staatsrat
schafft es aus eigener Kraft. Er formuliert — da er sie ander-
wärts nicht findet — selbständig jene „rögles speciales qui
varient suivant les besoins du service et la necessite de concilier
les droits de l’Etat avec les droits prives“, welche der Konflikts-
hof in der Affäre Blanco für obligatorisch erklärt hat.
— 1. -- no
°° 'TIRARD, 138 ff.