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Dieser Ausweg aus dem Dilemma freier Normverwirklichung
oder buchstabentreuer Normverletzung ist der beste und natür-
lichste. Das Dilemma wiederholt sich in allen Rechtsordnungen.
Aber die Rechtsprechung ausserhalb Frankreichs hatte weder die
Befähigung noch die Energie, das fehlende konstruktive Recht
aus eigener Kraft zu schaffen. Die dumpfe Empfindung, dass
Normverletzung unter allen Umständen Unrecht sei, hat sie auf
Nebenwege gedrängt und lässt sie das zur Ergänzung der Nor-
men erforderliche konstruktive Recht im Zivilrechte suchen, wel-
ches natürlich nie und nimmer die angemessenen „regles specia-
les“ zu liefern imstande ist. Das sind juristische Perversitäten,
welche diese Judikatur zum Gespötte machen ’”®,
Die österreichischen Gerichte sind in derselben Lage.
Jenen Entscheidungen, welche jede Entschädigung deshalb ver-
sagen, weil sie in keinem Gesetze angeordnet ist, stehen nicht
wenige gegenüber, welche Entschädigung entweder gewähren oder
doch wenigstens gewähren möchten und nur in der Begründung
unsicher herumtasten. Die Normen — das österreichische Recht
enthält im AllgStaatsbG. ausdrücklich die Normen der Freiheit
der Person und der Unverletzlichkeit des Eigentums — sind ihnen
mehr oder minder deutlich gegenwärtig, aber das Schwergewicht
der Gewöhnung zieht diese Richtersprüche immer wieder in den
78 OTTO MAYER, Die Entschädigungspflicht des Staates nach Billigkeits-
recht, 21: „flagrante Uebergriffe in das Gebiet des öffentlichen Rechtes,
Verrenkungen und Ausrenkungen der zivilrechtlichen Institute.“ FLEINER,
Ueber die Umbildung zivilrechtlicher Institute durch das Öffentliche Recht,
20: „Sofern der Gesetzgeber nicht für besonders empfindliche Fälle die
Lücke durch positive Festsetzung einer Entschädigungspflicht ausgefüllt
hat, haben nicht selten die Zivilgerichte auf dem Wege der Rechtsprechung
Abhilfe zu schaffen versucht. Das ist nur möglich geworden, indem sie
das Interesse, das der Einzelne an der Aufrechthaltung bestimmter durch
die Verwaltung geschaffener Einrichtungen besitzt, zu einem Privatrecht
gestempelt haben. Meist ist dies nicht anders als durch eine Verbiegung
und Verkrümmung privatrechtlicher Begriffe zu erreichen gewesen, Doch
auf diesem Gebiete scheint der Zweck die Mittel geheiligt zu haben.“