— 198 —
seiner Gestaltung von der sicheren Warte historischer Forschung
aus zu geben, ist wohl der Hauptzweck unserer Arbeit. Und
diesem wird vollauf Genüge getan, wenn wir ohne Rücksicht auf
den mit dem modernen Staatengebilde in keinerlei inneren Zu-
sammenhang stehenden Ständestaat und ‚seinem sozialen Geburts-
zensus, im folgenden nur die Geschichte des Wahlzensus im Volks-
staate des XIX. Jahrhunderts einer eingehenden vergleichenden
Betrachtung unterziehen.
Während noch ım Mittelalter die geistigen und physischen
Kräfte des Staates durch die Stände allein repräsentiert wurden,
und die Ritter den Wehr-, die Geistlichen den Lehr- und das
Bürgertum den Nährstand bildeten, trat auf Grund der Er-
findung des Schießpulvers und der Buchdruckerkunst eine Ver-
schiebung der sozialen Verhältnisse ein, die den Begriff der beiden
ersten Stände praktisch aufhob und den des dritten Standes mit
Volk identisch setzte.
War so schon im 16. und 17. Jahrhundert die soziale Bedeu-
tung auf das Volk übergegangen, so verlieh ihm die Großmacht-
politik der europäischen Staaten im 18. Jahrhundert, die unge-
heure Forderungen an Gut und Leben des Volkes stellte, noch
das Bewußtsein seiner Bedeutung. Auf der anderen Seite darf
man aber auch unbedenklich die Antwort des Abbes SIEYEs auf
seine Frage, was der dritte Stand sei und welche Rolle er bisher
im politischen Leben gespielt habe, als vom ganzen europäischen
Kontinent gesagt annehmen.
So finden wir nun gegen Ende des 18. Jahrhunderts überall
das Volk als einen Repräsentanten realer Machtrerhältnisse
vor, nicht aber ein solches im heutigen Sinne des Wortes, son-
dern ein Volk, dem infolge des extensiven Arbeitsbetriebes und
der damit zusammenhängenden Naturalprästation ein Proletariat
unserer Tage völlig fremd war. Der extensive Arbeitsbetrieb
an sich hatte schon wegen der Einfachheit der Arbeit und der
geringen Arbeiterzahl ein engeres Verhältnis zwischen Arbeit-