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werden, sollte demnach der Wahlzensus den Ausgleich der poli-
tischen Macht innerhalb der realen Machtverhältnisse herbei-
führen, so daß sich dessen Spitze praktisch weniger gegen das
ganze Volk, als vielmehr gegen den ungleichen Besitz des be-
stehenden Staatsbürgertums richtete.
Was endlich die praktische Gestaltung des Wahlzensus in
dieser Periode anlangt, so stellt er gewissermaßen die Resultante
dieser beiden einwirkenden Kräfte der realen Machtverhältnisse
und der Naturrechtsidee dar, von denen offenbar letztere die
stärkere war: Die realen Machtverhältnisse begnügen sich mit
der bloßen Statuierung eines Wahlzensus, dem dann die natur-
rechtlichen Anschauungen in seiner weiteren Ausgestaltung eine
stark individuelle Färbung geben. Die Höhe sucht so nur die
(renzlinie zwischen Selbständigkeit und Unselbständigkeit zu
ziehen, wobei aber nicht der geschichtliche Besitz, das erblich
überkommene Gut an Grund und Boden, das soviel mit dem Ge-
burtsrecht gemein hat, als Basis gewählt wird, sondern das Selbst-
erworbene: Der Arbeitstag und der dem Boden abgerungene
Reinertrag!*".
S2. Die Gestaltung des Wahlzensus unter dem
Einflusse der Idee von der Proprietätsmoral.
Das Naturrecht war aber in seinen Grundprinzipien zu
widerspruchsvoll, um sich in der Praxis auch fernerhin behaup-
ten zu können, und sicherlich waren die Greuel des souveränen
französischen Volkes in der großen Revolution nicht angetan,
für die Ideen der Gleichheit und Volkssouveränität neue, kräftige
Propaganda zu machen. Trauernd wandte sich ganz Europa
zu Anfang des 19. Jahrhunderts von einem Systeme, dem es
noch kurz vorher zugejubelt hatte, ab, um gerade im Gegensatze
zu diesem, in der praktischen Durchführung der Idee von der
Staats- resp. Fürstensouveränität seine Rettung zu suchen.
1 Vgl. S. 214, 233, 264, 279, 283.