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nicht erst in einer längeren Abhandlung nachgewiesen zu werden brauchen.
Daß die courtoisie im Staatenleben das ist, was im Leben der Individuen die
Verkehrssitte ist, erscheint wirklich sonnenklar. Nun ist aber die Ver-
kehrssitte im Völkerleben und im Leben der einzelnen Individuen nicht
dasselbe, oder sie braucht es doch wenigstens nicht zu sein. Das müßte
eben erst nachgewiesen werden. Mit der Feststellung: „courtoisie = Verkehrs-
sitte* sind wir über die Natur der courtoisie um nichts klarer geworden.
Hier ist ein Gewinn also nicht zu verzeichnen.
Aber hier liegt ja auch nicht das Problem, sagt der Verfasser. Es
liegt ja vielmehr in der Lösung der Frage, aus welchem Grunde die Kul-
turstaaten die Regeln der courtoisie, ohne rechtlich dazu verpflichtet zu
sein, genau so peinlich befolgen, wie die Vorschriften des Völkerrechts
selbst. Aber auch der Lösung dieser Frage sind wir am Schlusse der
STOERKschen Abhandlung nicht um einen Schritt näher gekommen. Wes-
halb befolgen die Staaten denn die „courtoisie = Verkehrssitte“? Weshalb
befolgen wir selbst denn alle die bürgerliche Verkehrssitte auch dann,
wenn ihre Nichtbefolgung uns keine Nachteile einbringt? Das wird uns
nicht verraten.
Doch ich muß gestehen, ich empfinde es durchaus nicht sonderlich
schmerzlich, daß uns die Antwort auf diese Frage vorenthalten wird. Ihre
Lösung gehört m. E. nicht in eine juristische, auch nicht in eine rechts-
philosophische, sondern in eine rein philosophische Abhandlung.
Was bleibt nun noch als Ernte der besprochenen Schrift über Völker-
recht und Völkercourtoisie? Verf. meint durch den Hinweis auf die Iden-
tität von courtoisie und Verkehrssitte einen praktischen Vorteil geschaffen
zu haben: „Unzweifelhaft hat letztere — die Verkehrssitte — den großen
Vorzug der eventuellen prozessualen Feststellbarkeit objektiv geltender
Grundsätze. Die courtoisie entzieht sich mit diplomatischer Geschmeidig-
keit der juristischen Kunst des Messens und Wägens. Was nach der Ver-
kehrssitte den Verhältnissen der Kontrahenten gemäß ist, was nach sach-
lichen Bedürfnissen den Beteiligten in ihren besonderen Beziehungen zu-
kommt, kann durch die juristische Technik zur Plastik der Sichtbarkeit
und Erkennbarkeit im Rechtsverkehr gebracht werden“ (S. 159). Wir stoßen
hier wieder auf den Irrtum, den wir oben bereits feststellten: auf falsche
Parallele zwischen der Verkehrssitte im neuen bürgerlichen Recht und der
Verkehrssitte im Staatenleben. Beide spielen in ihrem Gebiet nicht die
gleichen Rollen: erstere wird vom kodifizierten Recht angezogen und wird
somit für einzelne Fälle selbst zum Recht, bei der letzteren ist das, wie
darzutun versucht wurde, nicht möglich. Es besteht aber auch noch eın
anderer Unterschied zwischen der courtoisie und der bürgerlichen Verkehrs-
sitte, der hier noch wichtiger erscheint: die Verkehrssitte wird von einer
großen Zahl, von Millionen von Individuen gepflegt und darum wiederholen
sich die Handlungen, bei denen die Verkehrssitte eine Rolle spielt, fast