Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 26 (26)

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nicht erst in einer längeren Abhandlung nachgewiesen zu werden brauchen. 
Daß die courtoisie im Staatenleben das ist, was im Leben der Individuen die 
Verkehrssitte ist, erscheint wirklich sonnenklar. Nun ist aber die Ver- 
kehrssitte im Völkerleben und im Leben der einzelnen Individuen nicht 
dasselbe, oder sie braucht es doch wenigstens nicht zu sein. Das müßte 
eben erst nachgewiesen werden. Mit der Feststellung: „courtoisie = Verkehrs- 
sitte* sind wir über die Natur der courtoisie um nichts klarer geworden. 
Hier ist ein Gewinn also nicht zu verzeichnen. 
Aber hier liegt ja auch nicht das Problem, sagt der Verfasser. Es 
liegt ja vielmehr in der Lösung der Frage, aus welchem Grunde die Kul- 
turstaaten die Regeln der courtoisie, ohne rechtlich dazu verpflichtet zu 
sein, genau so peinlich befolgen, wie die Vorschriften des Völkerrechts 
selbst. Aber auch der Lösung dieser Frage sind wir am Schlusse der 
STOERKschen Abhandlung nicht um einen Schritt näher gekommen. Wes- 
halb befolgen die Staaten denn die „courtoisie = Verkehrssitte“? Weshalb 
befolgen wir selbst denn alle die bürgerliche Verkehrssitte auch dann, 
wenn ihre Nichtbefolgung uns keine Nachteile einbringt? Das wird uns 
nicht verraten. 
Doch ich muß gestehen, ich empfinde es durchaus nicht sonderlich 
schmerzlich, daß uns die Antwort auf diese Frage vorenthalten wird. Ihre 
Lösung gehört m. E. nicht in eine juristische, auch nicht in eine rechts- 
philosophische, sondern in eine rein philosophische Abhandlung. 
Was bleibt nun noch als Ernte der besprochenen Schrift über Völker- 
recht und Völkercourtoisie? Verf. meint durch den Hinweis auf die Iden- 
tität von courtoisie und Verkehrssitte einen praktischen Vorteil geschaffen 
zu haben: „Unzweifelhaft hat letztere — die Verkehrssitte — den großen 
Vorzug der eventuellen prozessualen Feststellbarkeit objektiv geltender 
Grundsätze. Die courtoisie entzieht sich mit diplomatischer Geschmeidig- 
keit der juristischen Kunst des Messens und Wägens. Was nach der Ver- 
kehrssitte den Verhältnissen der Kontrahenten gemäß ist, was nach sach- 
lichen Bedürfnissen den Beteiligten in ihren besonderen Beziehungen zu- 
kommt, kann durch die juristische Technik zur Plastik der Sichtbarkeit 
und Erkennbarkeit im Rechtsverkehr gebracht werden“ (S. 159). Wir stoßen 
hier wieder auf den Irrtum, den wir oben bereits feststellten: auf falsche 
Parallele zwischen der Verkehrssitte im neuen bürgerlichen Recht und der 
Verkehrssitte im Staatenleben. Beide spielen in ihrem Gebiet nicht die 
gleichen Rollen: erstere wird vom kodifizierten Recht angezogen und wird 
somit für einzelne Fälle selbst zum Recht, bei der letzteren ist das, wie 
darzutun versucht wurde, nicht möglich. Es besteht aber auch noch eın 
anderer Unterschied zwischen der courtoisie und der bürgerlichen Verkehrs- 
sitte, der hier noch wichtiger erscheint: die Verkehrssitte wird von einer 
großen Zahl, von Millionen von Individuen gepflegt und darum wiederholen 
sich die Handlungen, bei denen die Verkehrssitte eine Rolle spielt, fast
	        
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