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mord in seinem Gesetzblatt verkündet und dann neugeboren wie der Phönix
aus seiner Asche entsteht! Dem Problem, die Kontinuität der neuen Glied-
staaten mit den ehemaligen, untergegangenen deutschen Staaten zu er-
klären geht der Verf. aus dem Wege und gibt dafür ein paar „ethisch-
politische* Sätze JELLINERS (S. 17).
Der Verf. verkennt natürlich nicht, daß die bloße Selbstvernichtung der
ehemals souveränen Staaten nicht die Entstehung eines neuen Staatswesens
hervorzurufen im Stande ist; er betont dies vielmehr sehr stark. Wie ist
nun positiv das Reich entstanden? Der Verf. sagt: nicht durch Rechtssätze
und Verträge, sondern durch eine Tat — aber nicht durch eine Tat der
bisherigen Staaten, welche ja sich selbst umgebracht haben und eine weitere
Tat nicht mehr vornehmen konnten, sondern dadurch, daß sich „Wilhelm I.
zum staatlichen Herrscher aufwarf“. Daß sich die ehemaligen Staaten
diesem usurpierten Herrscherwillen unterwarfen und ihm gehorchten, konnte
nicht mehr auf ihrer „Selbstbindung“ d. h. ihrem in den Bundesverträgen
erklärten Willen beruhen; denn dieser „Staatswille der Vertragsstaaten war
mit dem Tätigwerden des neuen Herrscherwillens notwendig (!) unterge-
gangen“, „Wie der Herrscherakt Wilhelms I., so ist auch das notwendige
Komplement desselben, das Gehorchen der fünf Staaten im Reich, jedem
Versuch, es rechtlich abzuleiten, entrückt; auch dieses ist bloße Tat-
sache‘, Was würde Kaiser Wilhelm I. wohl dazu sagen, wenn er wissen
könnte, was ihm die neueste Blühte staatsrechtlicher Konstruktion unter-
schiebt! Er soll sich ohne einen gültigen Rechtstitel — also unberechtigter
Weise, eigenmächtig — zum Herrscher über Deutschland „aufgeworfen*“
haben! Als mildernder Umstand kann ihm höchstens angerechnet werden,
daß er und seine Ratgeber, ebenso wie das dumme Volk, wegen ihrer
mangelhaften juristischen Begriffsbildung den Bündnisverträgen eine recht-
liche Bedeutung zugeschrieben haben. Und diese Tat würde er am 1, Jan.
1871 im Rückfall verübt. baben; denn dieselbe Usurpation der Staatsgewalt
über das Gebiet des Nordd. Bundes hatte er bereits am 1. Juli 1867 vor-
genommen. Aber diese Beschuldigung des großen und Recht liebenden
Kaisers ist tatsächlich unsubstanziiert. Wo anders als in der Phantasie
des Verfassers und einiger, in denselben Irrwegen wandelnden Vorgänger
ist irgend eine Erklärung oder Handlung des Kaisers anzuführen, durch
welche sich sein „Aufwerfen als Herrscher“ manifestiert hat!
Man kann nun leicht ermessen, wie der Verf. von diesen „Voraus-
setzungen“ aus es ermöglicht, die zahlreichen Bestimmungen der Reichs-
verfassung, in welchen ausdrücklich „Verträge“ in Bezug genommen werden,
so auszulegen, daß die RV. in Wahrheit gar keine Verträge meint, sondern
nur ein auf besondere Art zustande gekommenes Reichsrecht, welches nur
kraft der einseitigen Sanktion des Reichs Geltung hat. Es ist hier ein
großer Scharfsinn verschwendet um den vom Verf. als Ausgangspunkt ge-
nommenen Gedanken gegen alle entgegenstehenden Hindernisse siegreich