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wohnheitsrecht und Rechtswissenschaft umgestaltet wurde. Da-
rin liegen grundsätzliche Aenderungen scheinbar fest abgeschlos-
sener Zustände, die auch schon anderweit die Aufmerksamkeit
auf sich gezogen haben?.
In entgegengesetzten Pendelschwingungen bewegen sich seit
zwei Jahrhunderten die Auffassungen vom Gewohnheitsrechte.
Der naturrechtlichen Auffassung des Polizeistaates und der fran-
zösischen Revolution war allein das Gesetz der Ausdruck des
allgemeinen Willens. Das Gewohnheitsrecht kam nur als still-
schweigender Staatswille in Betracht, allenfalls neben dem Ge-
setze, nie gegen das Gesetz. (#egenüber dieser mechanischen
Staats- und Rechtsauffassung hat die historische Schule die Be-
deutung des Gewohnheitsrechtes als des unabhängig vom Staate
aus der Volksüberzeugung erwachsenden Rechtes reiner und
klarer erfaßt als jedes frühere Zeitalter. Und doch war ihre
Vorliebe für das Gewohnheitsrecht und ihre Abneigung gegen
die Gesetzgebung wiederum eine Einseitigkeit. Schon das fol-
gende Geschlecht erkannte, daß das Rechtsbewußtsein der mo-
dernen Völker mit ihrer machtvollen Staatsgewalt sich vorwie-
gend in der Form des Gesetzes verkörpert. Angesichts der ge-
waltigen Kodifikationen der letzten Jahrzehnte scheint uns we-
nigstens in Deutschland die ganze Rechtsordnung auf Paragra-
phen gefüllt, und unwillkürlich fragt der Mann aus dem Volke,
der sich über eine Rechtsfrage belernen will: Wie lautet der
Paragraph ? Und doch ist trotz dieser gewaltig arbeitenden Ge-
setzgebung dem Grewohnheitsrechte seine Bedeutung geblieben.
Wie das Epheu um die Mauer schlingt es sich um das Gesetzes-
recht, gibt ihm teilweise ein anderes Aussehen, ja zersetzt es
schließlich, so daß das lebendige geltende Recht aus dem toten
Buchstaben der Paragraphen nicht wieder zu erkennen ist.
8 REHM, Unitarismus und Förderalismus in der Reichsverfassung,
Dresden 1898; TeıereL, Unitarismus und Förderalismus im Deutschen
Reiche, Tübingen 1907.