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det der Kreis eigener, unkontrollierbarer Staatsgewalt. Wir sind
auf dem Wege zum Einheitsstaate, der nicht von heute auf mor-
gen, aber nach Menschenaltern sicher erreicht werden wird.
Künftige Doktordissertationen werden sich vielleicht mit der
Untersuchung der Frage beschäftigen, wann eigentlich die deut-
schen Einzelstaaten aufgehört haben, Staaten zu sein.
Auf die Frage nach dem Inhaber der Reichsstaatsgewalt
konnte nach der Entstehungsgeschichte des Reiches die Antwort
nur lauten, daß es die Gesamtheit der im Reiche verbundenen
Staaten sei. So sagte Bismarck mit Recht, die Staatsgewalt des
Reiches ruhe in der Gesamtheit der verbündeten Regierungen.
Aber da das Reich Bundesstaat ist, der Wille der Gesamtheit
nicht durch den der Genossen ersetzt werden kann, ist es die
(sesamtheit der Staaten in der neuen korporativen Zusammen-
fassung des Reiches. Das Reich steht daher den einzelnen Ge-
nossen als besondere rechtliche Individualität gegenüber.
Daß man die Einzelstaaten als Träger der Reichsstaatsge-
walt betrachtet, hat eine praktische Bedeutung nur insofern, als
sie sich in einem Reichsorgane betätigen können. Ein solches
ıst allerdings vorhanden in dem Bundesrate. Aber es ist keines-
wegs das einzige. Ja seine Bedeutung tritt gegenüber den beiden
anderen Organen immer mehr in den Hintergrund. Damit wird
auch der theoretische Inhaber der Reichsstaatsgewalt an Inter-
esse verlieren müssen. Wie eine weit verbreitete Auffassung, die
ich allerdings nicht für richtig halte, als Inhaber der Einzel-
staatsgewalt eben den Staat, Monarch und Volksvertretung als
seine obersten Organe ansieht, so genügt es vollständig als In-
haber der Reichsstaatsgewalt das Reich zu bezeichnen, ohne
weiter zu forschen, was dahinter steckt. Damit kehren wir über
die Denk- und Sprachweise des 17. und 18. Jahrhunderts, die
unter dem Reiche die Reichsstände oder die Gesamtheit der
Staaten verstand, zurück zu der Auffassung des Mittelalters:
Das Reich ist das allgemeinere und dauernde in der staatlichen