— 384 —
wenn er im Reichstage keine Mehrheit findet — gleichgiltig, wie
Bundesrat und preußischer Landtag zu ihm stehen. Zum ersten
Male hat der Reichstag selbständig eine Finanzreform durchge-
führt gegen den Willen von Regierung und Bundesrat. Der
Leiter der Regierung ist zurückgetreten, und der Bundesrat hat
sich gefügt. Zum ersten Male hat der Reichskanzler offiziell
seinen Abschied genommen, weil er für seine Politik im Reichs-
tage keine geschlossene Mehrheit mehr finden konnte. Damit
gleiten wir langsam, aber sicher in das parlamentarische System
hinüber, das mit den föderativen Grundlagen des Reiches un-
vereinbar, nur auf unitarischer Grundlage denkbar ist. Der
Bundesrat selbst hat es gebilligt. Ebenso wie der Reichskanzler
haben aber auch die Staatssekretäre mit den parlamentarischen
Mehrheiten zu rechnen. Der wachsende Umfang der Geschäfte
gibt ihnen von selbst eine immer selbständigere Bedeutung. Das
muß über kurz oder lang die bureaukratische Einheit zu Gunsten
eines solidarischen Reichsministeriums sprengen. Nicht um große
Umwälzungen handelt es sich, sondern um eine allmähliche Ver-
schiebung in Stellung und Bedeutung der einzelnen Organe. Ge-
wiß haben wir derzeit kein parlamentarisches System im gewöhn-
lichen Sinne. Aber der Rechtszustand ist heute schon ein ganz
anderer als in der Bismarckschen Zeit.
Auch scheinbare gelegentliche Verschiebungen zu Gunsten
des Bundesrates ändern am Eindergebnisse nichts. Namentlich
die mehrfache Berufung des auswärtigen Ausschusses, der in
den ersten Jahrzehnten meist nur auf dem Papiere bestand, ist
in dieser Hinsicht angeführt worden. Aber Bismarck verstän-
digte sich, wie namentlich sein Briefwechsel mit König Ludwig II.
von Bayern ergibt, fortgesetzt über den Gang der auswärtigen
Politik mit den deutschen Landesherren, selbst der (sroßherzog
von Sachsen-Weimar erklärte ihm, daß er auch sein, des Groß-
herzogs, Reichskanzler sei. In diesem Verfahren, das eine Be-
rufung des auswärtigen Ausschusses gegenstandslos machte, lag