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So selbstverständlich eigentlich dieser Standpunkt für jeden ist, der
nicht als Cyniker die internationalen Probleme behandelt, so ist es doch
von nicht zu unterschätzender Bedeutung, daß die Regierung einer Groß-
macht sich mit Bestimmtheit für den Grundsatz ausspricht, daß Treu und
Glauben die Richtschnur für die Beobachtung der Staatsverträge ist. Ein
Staat der darnach handelt, schützt dadurch allgemeine und damit mittel-
bar eigene Interessen, die ungleich höher und wichtiger sind als die, wel-
che er durch Verletzung der Vertragstreue momentan fördern könnte.
Treu und Glaube sind im völkerrechtlichen Verkehr noch viel mehr als
im privaten zu fordern, nicht nur weil von einer Staatsregierung eine
höhere Noblesse der Handlungsweise erwartet werden darf, sondern weil
ein Konflikt zwischen Staaten als Vertragsparteien nicht den sichern Aus-
weg des Prozesses besitzt, vielmehr eine friedliche und schiedliche Austra-
gung dann fast immer abgeschnitten ist, wenn eine oder beide Parteien
innerlich von der Güte ihrer Sache nicht überzeugt sein können.
Max Huber.
Bornhak, Rußland und Finnland. Ein Beitrag zur Lehre
vonden Staatenverbindungen. 2. Aufl. Leipzig 1909.
Unter den Kundgebungen der wissenschaftlichen Welt zur finnischen
Frage verdient die in zweiter Auflage erschienene Schrift BORNHAKs wegen
der überaus knappen, klaren und sachlichen Behandlung des Stoffes beson-
dere Beachtung. Der Verfasser kommt zu dem Resultat, daß auf dem
Landtag zu Borgo, als Finnland lediglich okkupiertes schwedisches Territorium
war, unter Zuhilfenabme derstaatsrechtlichen Formen Schwedens eine neue
ständisch-konstitutionelle finnische Staatsgewalt begründet wurde. Eine
völkerrechtliche Anerkennung dieser neuen Staatsgewalt und damit die
Schaffung eines neuen Völkerrechtssubjekts „Finnland“ ist nie erfolgt, denn
im Friedensvertrag von 1809 wurde Finnland schlechthin an Rußland ze-
diert. Durch diese Vorgänge entstand eine Diskrepanz zwischen dem
staatsrechtlichen und dem völkerrechtlichen Status Finnlands, in dem es
nach ersterem in Bezug auf die inneren Verhältnisse, für Land und Leute,
eine besondere und zwar konstitutionelle Staatsgewalt besitzt, nach letzte-
rem aber einen integrierenden Bestandteil[eines Reiches bildet, auf dessen
auswärtige Politik es keinen rechtlichen Einfluß ausübt. Aber auch wenn
man die Vorgänge von 1809 zunächst als eine vollkommene Inkorporation
in das absolute Kaisertum Rußland ansehen wollte, so wäre durch die Er-
klärungen Alexanders I. 1809 und Alexanders II. 1869 für den finnischen
Teil des russischen Reichs eine Konstitution geschaffen worden, deren
Rechtsbeständigkeit und Unaufhebbarkeit ebenso außer Frage stünde, als
diejenige irgend einer oktroyierten Verfassung.
Die rechtliche Stellung Finnlands läßt sich nicht restlos in einer der
Kategorien Einheitsstaat, Realunion usw. unterbringen, sondern ist als ein